Interreligiöser Dialog Mitgefühl für die andere Seite
Der Krieg in Nahost macht es vielen Menschen schwer, Mitgefühl für die jeweils andere Seite zu haben. Der Verein "begegnen" aus Bielefeld versucht schon lange, Juden, Muslime und Christen zusammenzubringen.
Wer die Zukunft nachhaltig gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen und die Gegenwart positiv beeinflussen. Das ist der Leitgedanke von "begegnen" aus Bielefeld. Der Verein will Menschen islamischen, jüdischen und christlichen Glaubens die Möglichkeit geben, aufeinander zuzugehen und gemeinsam von der Geschichte Europas zu lernen.
"Wir wollen den Menschen Erfahrungen mitgeben, die ihnen helfen, sich stark zu machen gegen Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und jede Form von Fremdenfeindlichkeit", sagt Geschäftsführerin Katharina Arditi.
Alles begann 2018 mit einer Fahrt von jungen muslimischen, überwiegend geflüchteten Menschen und jungen Erwachsenen aus den jüdischen Gemeinden zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. "Die Kernidee war, dem Vorwurf, dass Geflüchtete aus muslimisch geprägten Ländern Antisemitismus nach Deutschland importieren würden, einen Lösungsansatz entgegenzustellen", erklärt Arditi. Das Angebot war vor allem für die Muslime gedacht, die in ihren Herkunftsländern keine Möglichkeit hatten, etwas über das Judentum und die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands zu lernen.
Seit 2019 vom Land gefördert
Nach der ersten erfolgreichen Begegnungsreise fand im Januar 2019 eine weitere Fahrt unter Teilnahme des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet statt. Der war von der Idee so begeistert, dass er seine Förderung für ein dauerhaftes Projekt zusagte. Der Verein war geboren.
Neben jährlich zwei bis drei Begegnungsreisen zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau gibt es weitere Projekte, beispielsweise mit jungen Straftätern im Offenen Vollzug der JVA Bielefeld-Senne und andere Begegnungsreisen nach Andalusien und Marokko.
Angesichts der momentanen Weltlage bekommt die Arbeit des Vereins eine ganz neue Bedeutung. In einer aktuellen Stellungnahme verurteilt der Vorstand die Terrorangriffe auf Israel, auch von Pro-Hamas-Kundgebungen in Deutschland distanziere man sich.
Zwei bis drei mal im Jahr reist der Verein begegnen e.V. mit einer Gruppe nach Auschwitz-Birkenau.
Anspannung auch im Verein spürbar
Die Gespräche untereinander hätten sich verändert, sagt Arditi. Gerade kommt sie von einer Reise mit 30 Teilnehmern nach Auschwitz zurück. An der hat auch Avi Applestein teilgenommen. Er ist Jude, die Familie seines Vaters wurde in Birkenau umgebracht, sein Vater hat das Konzentrationslager überlebt.
Applestein war schon öfter dort. Diese Reise sei aber besonders gewesen. "Schon beim Vorbereitungsseminar erkennt man, wie engagiert die Teilnehmer sind. Die Diversität der Teilnehmer schafft einen Raum zum Austausch", berichtet der 67-Jährige. Die Neugier füreinander sei spürbar gewesen.
Angesichts der aktuellen Lage sei die Stimmung aber angespannt gewesen. "Es gab Auseinandersetzungen zur Bewertung der aktuellen Situation, die mit Emotionen beladen waren, auch heftige Diskussionen über die Sichtweise und Bewertung der Lage, die aber trotzdem respektvoll waren", sagt Applestein. Es beginne mit festgesetzten Meinungen, die aufeinanderprallen. Jeder versuche, seine Position durchzusetzen. Am Ende seien die Flammen aber kleiner geworden, und man habe sich zugehört.
Gespräche, die im Alltag selten zustande kommen
Es sei deutlich spürbar, dass auf der aktuellen Reise eine neue Dimension dazugekommen sei, sagt Geschäftsführerin Arditi. Das grundlegende Miteinander und das Verständnis in der Gruppe funktionierten aber weiterhin gut. "Nachdem der Elefant im Raum deutlich spürbar war und es erste vorsichtige Gespräche zur aktuellen Situation im Nahen Osten gab, war es am zweiten Abend notwendig, das Thema direkt in der Gruppe anzusprechen", so ihre Beobachtung.
"Der gegenseitige Respekt und die Toleranz gegenüber anderer Perspektiven führten schlussendlich zu konstruktiven Gesprächen, die bis zum letzten Tag dieser Reise anhielten", sagt Arditi. Es sei viel diskutiert und teilweise auch geweint worden.
Der Verein bietet Möglichkeiten für Gespräche, die im Alltag nur selten zustande kommen. Die muslimische Teilnehmerin Stephanie Fehr stellt fest, bei den Gesprächen in der Gruppe sei es nicht um die Durchsetzung eigener Positionen, sondern um das Erweitern und Revidieren der eigenen Perspektive gegangen: "Beim Nachdenken über den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland wurden zahlreiche pragmatische Ideen geteilt."
Eine große Gemeinsamkeit
Die Christin Melissa Stolpmann sieht trotz unterschiedlicher Lebensweisen und Ansichten eine große Gemeinsamkeit: "Wir haben alle das gleiche Interesse, verschiedene Persönlichkeiten und Perspektiven in die Thematik mit einzubringen", so die 24-Jährige. "Natürlich gab es auch Themen, bei den man nicht einer Meinung war. Die unterschiedlichen Standpunkte wurden aber stets respektiert."
Um eine ausgewogene Diskussionskultur zu ermöglichen, achtet der Verein darauf, dass die Gruppen immer neu belegt und gut durchmischt sind. "Außerdem versuchen wir, jede Religionszugehörigkeit unter den Teilnehmenden ungefähr gleichmäßig vertreten zu haben. Wir haben Teilnehmende im Alter von 18 bis etwa 80 Jahren und fördern so auch den generationsübergreifenden Austausch. Jeder lernt von jedem", sagt Geschäftsführerin Arditi.
Applestein fasst die Reise so zusammen: "Allen Beteiligten ist klar geworden, dass sie die andere Seite besser kennenlernen, ihre Meinungen mehr auf Fakten und weniger auf Gerüchte aufbauen und vor allem die Beweggründe der anderen verstehen müssen."