
Erinnerungskultur "Die Angriffe kommen von mehreren Seiten"
Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg ist seit Langem umkämpft. Wie die extreme Rechte versucht, die Geschichte umzudeuten, erklärt der Historiker Volker Weiß im Interview.
tagesschau.de: Sie beschäftigen sich seit Längerem mit der "Neuen Rechten" und der AfD. Inwiefern spielt die Umdeutung des Nationalsozialismus für Rechtsaußen eine strategische Rolle?
Volker Weiß: Die äußerste deutsche Rechte hat nach wie vor das Problem, im Schatten der NS-Verbrechen und der Kriegsniederlage zu stehen. Sie reagiert darauf mit der Forderung nach einem Perspektivwechsel. Die Erinnerung müsse sich wieder auf die deutschen Verluste und die Auflösung des Reiches konzentrieren, das militärische und politische Geschehen müsse vom Kontext des deutschen Expansions- und Vernichtungskrieges gelöst werden. So sollen am Ende tapfere Soldaten und leidende Zivilbevölkerung im Mittelpunkt stehen.
Das Thema ist seit Langem umkämpft, spätestens seit Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 staatsoffizell von Befreiung sprach und auf den untrennbaren Zusammenhang von Nationalsozialismus und Krieg hingewiesen hatte. Ein anderer Versuch der Verschiebung besteht darin, die eigene Tradition von Nationalsozialismus bereinigen zu wollen, indem man Hitler auf die linke Seite schiebt. Damit wären alle geschichtspolitischen Probleme der äußersten Rechten auf einen Schlag gelöst.

"Historisch-fiktionale Gegenerzählung"
tagesschau.de: Beispiele gibt es einige: Alice Weidel behauptet, dass Hitler ein Kommunist war, schon vor Jahren forderte Björn Höcke eine "erinnerungspolitische Wende". Mit welchen Mitteln soll die NS-Zeit relativiert oder umgedeutet werden?
Weiß: Entweder durch die schon genannte Isolation des Geschehens, also der Feststellung, dass der deutsche Soldat ja nur für seine Heimat gekämpft habe, was den von vornherein erklärten Willen der Nationalsozialisten zu einem expansiven Revanchekrieg ausblendet. Das ist auch der Hintergrund von Gaulands "Vogelschiss". Er möchte die Vorgeschichte auslöschen und den Nationalsozialismus als plötzliche, punktuelle Katastrophe aus dem historischen Kontinuum herausreißen.
Ein weiteres Mittel ist der Hinweis auf die Verbrechen anderer Kriegsparteien, nach dem Motto: "Im Krieg verüben doch alle Verbrechen, warum sollen ausgerechnet die Deutschen dafür büßen." Das negiert allerdings den besonderen Charakter des deutschen Vernichtungsfeldzuges und der industriellen Menschenvernichtung im Holocaust. Und schließlich der Versuch, Hitler zum "Kommunisten" zu erklären, was nichts als eine Verlängerung der NS-Propaganda einer "Volksgemeinschaft" darstellt.
Insgesamt geht es darum, die kritische Reflexion der NS-Geschichte zu delegitimieren und mit einem nationalen Mythos apologetisch zu überschreiben. Mein Kollege Gideon Botsch nannte diesen Zugriff einmal treffend eine "historisch-fiktionale Gegenerzählung", an der von rechtsaußen gearbeitet wird.
"Man kann hinter bereits Erarbeitetes zurückfallen"
tagesschau.de: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und an die Shoah war schon immer umkämpft. Wie unterscheiden sich die Debatten heute von früheren Formen der Vergangenheitsverklärung in der Bundesrepublik?
Weiß: Der Unterschied zwischen der Gegenwart und den Nachkriegsjahrzehnten ist, dass man heute wieder hinter bereits Erarbeitetes zurückfallen kann. Bis weit in die 1980er-Jahre stand hauptsächlich die individuelle Erfahrung der Deutschen im Vordergrund und man wollte um die eigenen Opfer trauern. Die Ausweitung des Gedenkens von den "deutschen Opfern" auf die "Opfer der Deutschen" war ein jahrzehntelanger Prozess im Zuge generationeller Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Liberalisierung.
Das wird von rechts bis heute nicht akzeptiert und als Folge von Fremdbestimmung und Umerziehung gedeutet. Björn Höcke schrieb ja einmal, die Rechtsvorschriften gegen die Verwendung von NS-Parolen sollten verhindern, dass die Deutschen wieder "zu sich selbst" finden könnten.
"Das Jahrhundert vor 1945 ist aus dem Fokus gerückt"
tagesschau.de: Die Erinnerungskultur ist im Wandel. Sehen Sie aktuell genügend Widerstand gegen diese Umdeutungsversuche - oder beobachten Sie eine gewisse Ermüdung im Umgang mit dem Nationalsozialismus?
Weiß: Das Problem ist, dass die Angriffe inzwischen von mehreren Seiten kommen. Neben einer geschichtsrevisionistischen Rechten und einer teils abstrusen Rhetorik während der Corona-Pandemie legt hier auch ein sich progressiv dünkendes Milieu die Axt an. Dort findet man nun, dass andere Opfer der Geschichte ins Hintertreffen geraten seien. Ich finde das bedauerlich, da sich etwa die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und des Nationalsozialismus keinesfalls ausschließen.
Insgesamt sehe ich vor allem einen Wissensverlust und natürlich das Schwinden der konkreten Erfahrung im demographischen Wandel. Faktoren, die von rechts geschickt bespielt werden können. Hier sind neben den Familien vor allem Schulen und die politische Bildung gefragt, die allerdings nicht die ausreichenden Ressourcen haben.
Auch forschungspolitisch ist das wichtige Jahrhundert vor 1945 aus dem Fokus gerückt. Dabei sind die Kenntnis von Nationalismus, völkischer Bewegung und Imperialismus seit dem 19. Jahrhundert wichtige Grundlagen dafür, Nationalsozialismus und Krieg eben nicht als isoliertes Ereignis, als "Vogelschiss" zu betrachten, sondern als Kulmination einer längeren, sicher nicht zwangsläufigen, aber eben doch fatalen Entwicklung.
tagesschau.de: Welche Rolle spielen Medien bei der Verbreitung dieser Narrative? Wie sollte eine demokratische Gesellschaft darauf reagieren?
Weiß: Die Medien sind in dieser Zerstörung fest einkalkuliert, das Spiel mit den Provokationen geht auf. Schon Weidels Äußerung zu Hitler wurde durch jeden Bericht wiederholt.
Es gehört wohl zu den größten Erfolgen der AfD und ihres Umfelds, ihre Begriffe und Positionen in die breite Öffentlichkeit gebracht zu haben. Daher wäre eine der dringlichsten Aufgaben für Politik und Medien heute, sich von AfD und Co. nicht die Stichworte vorgeben zu lassen.
Das Gespräch führte Konstantin Kumpfmüller, tagesschau.de.