Wasserstreit am Edersee Als hätte jemand den Stöpsel gezogen
Der Edersee in Hessen ist Deutschlands zweitgrößter Stausee - und fast leer. Unterhalb der Staumauer trifft das die Schifffahrt, oberhalb den Tourismus. Der Streit um das fehlende Wasser ist kaum zu schlichten.
200 Stufen - so weit muss Thomas Hennig hinabsteigen, wenn er zu seinem Bootsanleger will. Hennig betreibt eine Segelschule in Rehbach. Aber das Wasser ist weg. Der Ederstausee im Norden Hessens ist gerade noch zu 18 Prozent gefüllt. 15 Meter liegt der Wasserspiegel unter der Durchschnittsmarke für diese Jahreszeit - und sogar 25 Meter unter dem Level, das der See erreicht, wenn er randvoll ist.
Kaum Wasser - kaum Touristen
Unten an der Wasserkante schwappt grüner Schleim ans Ufer, überzogen von einer weißen Schimmelschicht. Das sieht nicht nur ekelhaft aus, es stinkt auch zum Himmel. Weil das wenige Wasser im See zu warm wird, gedeihen Cyanobakterien, sie bilden den Schleimteppich, der Baden unmöglich macht.
Auch für den Wassersport wird es schwierig. "Wir sind mitten in der Hauptsaison, aber wir mussten alle Segelkurse stornieren", sagt Hennig. Ein See ohne Wasser ist für die Tourismus-Region Edersee der größte anzunehmende Schadensfall. Etwa zwei Millionen Touristen zählt die Region pro Jahr. Zehn Prozent davon sind Wassersportler, schätzt Hennig. "Aber auch die restlichen 90 Prozent kommen wegen des Wassers, wollen schwimmen oder bei ihrer Radtour mit der Fähre übersetzen."
Die Segelschule von Hennig liegt auf dem Trockenen.
"Trockenheit ist schlimmer als Corona"
Die Fähre musste mitten in den Ferien ihren Betrieb einstellen. Und auch das Ausflugsschiff zieht immer engere Kreise auf dem kleiner werdenden See. 550 Millionen Euro setzt der Tourismus hier im Jahr normalerweise um. In diesem Jahr wird es deutlich weniger sein.
Vor allem Tagestouristen bleiben weg, viele Restaurants haben die Öffnungszeiten bereits eingeschränkt. Und auch Segelschulbesitzer Thomas Hennig hat die Saison abgeschrieben: "Die Trockenheit ist für uns schlimmer als Corona."
Wasser für Weser und Mittellandkanal
Einige Kilometer weiter östlich ragt die gewaltige Staumauer hoch über den See. Hier lässt sich besonders gut sehen, wie niedrig der Pegel ist. Und hier liegt ein weiterer Grund, warum der Edersee so wenig Wasser hat. Bis vor zwei Wochen hat Jörg Böhner, der Chef der Talsperre, jeden Tag tausende Kubikmeter Wasser abgelassen.
Gebaut wurde die mächtige Talsperre vor mehr als 100 Jahren nämlich, um Weser und Mittellandkanal mit Wasser zu versorgen, damit sie schiffbar bleiben. Es ist also ganz normal, dass der Edersee im Sommer weniger Wasser hat als im Winter.
Weil das Wasser warm ist, gedeihen Blaualgen und Bakterien - für den Tourismus eine Katastrophe.
In vier von fünf Sommern zu wenig für die Schifffahrt
Doch in Zeiten des Klimawandels fließt in den Sommermonaten so wenig Wasser nach, dass der See fast leerläuft. Es ist, als würde jemand den Stöpsel an der Badewanne ziehen. "Noch Ende April war der Edersee randvoll", sagt Böhner. Doch seit zwei Wochen kann er nur noch eine kleine Mindestmenge an die Weser abgeben.
Zu wenig für die Schifffahrt dort. Auch sie musste mittlerweile eingestellt werden. In vier der letzten fünf Sommer ist das passiert. Eine solche Häufung habe es früher nicht gegeben.
"Tourismus mittlerweile ein Riesenfaktor"
Die Geschäftsleute am Edersee wollen sich damit nicht abfinden. Sie sind sauer, dass das Wassermanagement der zuständigen Bundesbehörde den wirtschaftlichen Interessen an der Weser größere Priorität einräumt als dem Tourismus am Edersee. "Dabei hat die Schifffahrt auf der Oberweser gar nicht mehr die wirtschaftliche Bedeutung wie vor 100 Jahren", schimpft Segelschulbesitzer Hennig. "Die müssten auch mal in die Waagschale werfen, dass der Tourismus mittlerweile ein Riesenfaktor geworden ist."
Wissenschaftler der Uni Kassel haben versucht, eine Lösung für den Wasserstreit zu finden. Wasserwirtschaftler Stephan Theobald hat ein Tool entwickelt, mit dem sich der Wasserabfluss aus dem Edersee besser steuern lässt. Außerdem konnte er die Weseranrainer überzeugen, dass auch ein niedrigerer Pegelstand dort für die Schifffahrt noch ausreicht.
Professor Theobald forscht am Edersee - und am See Genezareth, wo sich das Problem noch auf viel dramatischere Weise stellt.
Vom Edersee für den See Genezareth lernen
Ohne diese Maßnahmen wäre der Edersee in diesem Sommer noch viel früher leergelaufen, ist Stephan Theobald sicher. "Aber letztlich bringt auch das nur einen Aufschub", sagt er. Den Grundkonflikt kann er nicht lösen: Es regnet zu wenig, um beide Seiten ausreichend zu bedienen.
Immerhin: Die Erkenntnisse, die Theobald am Edersee gewonnen hat, helfen ihm bei einem neuen Projekt. Er kümmert sich um die Wasserverteilung am See Genezareth in Israel. In dieser Region ist Wasser eine Frage von Krieg und Frieden. Ganz so weit ist es am Edersee glücklicherweise noch nicht.