Mehrfachbehinderung Wohin nach der Schulzeit?
Während der Schulzeit sind sie gut aufgehoben: Menschen mit Mehrfachbehinderung. Im Erwachsenenalter allerdings fehlt es stark an geeigneten Wohnplätzen - mit dramatischen Folgen für die Familien.
Carolina Kaendler sitzt zusammen mit ihrem Sohn Vincent am Schreibtisch. Auf dem Land, in ihrem Haus in Tiefenbach bei Landshut. Aufgeregt wippt er mit seinem Oberkörper vor und zurück. Immer wieder. Sie malen. Plötzlich steht der Sohn auf, klammert sich an die Mutter und sagt verwaschen "Mittagessen". Es ist 11 Uhr morgens. Dann läuft er schnurstracks in die Küche, die Mutter hinterher. Sie versucht ihn vom heißen Herd fernzuhalten. Zwei Minuten später sitzt er wieder an seinem Schreibtisch. Jetzt will er puzzeln. "Ein ruhiger Tag", sagt die Mutter.
Erfolglose Suche nach Platz im Wohnheim
Vincent ist mehrfach behindert: Er kann kaum sehen, ist geistig beeinträchtigt und autistisch. Auf die Hilfe seiner Familie ist er rund um die Uhr angewiesen, nicht nur tagsüber. Jede Nacht müssen die Eltern aufstehen, "an schlechten Tagen jede Stunde, an sehr guten Tagen ein- bis zweimal", sagt Kaendler. Deshalb geht Vincent unter der Woche auf ein spezielles Internat - ein wenig Entlastung für die Familie.
"Zusammen essen oder mal auf der Couch sitzen und fünf Minuten einen Film schauen, bevor er wiederkommt. Diese Momente werden sehr kostbar", erklärt die Mutter leise. Doch seine Schulzeit endet. Und obwohl die Familie seit zwei Jahren sucht, hat sie für die Zeit danach immer noch keinen geeigneten Wohnheimplatz gefunden. Mehr als 70 Einrichtungen hat die Familie bereits kontaktiert, auch außerhalb Bayerns. Bei gerade einmal vier hat sie es bisher auf die Warteliste geschafft.
Deutschlandweites Problem
Dabei ist Familie Kaendler in Niederbayern nicht die einzige Familie, die vor diesem Problem steht. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, spricht von einem deutschlandweiten Phänomen. Sie kritisiert, "dass mehrfach oder komplex beeinträchtigte Menschen eigentlich kaum Einrichtungen finden, in denen sie gut leben können, in denen auch die Teilhabe in der Gesellschaft, an der Freizeit, am Arbeitsleben, all das gewährleistet ist".
Man wolle sich nicht dafür einsetzen, dass alle Menschen in einer Einrichtung untergebracht werden. Dennoch sei der Aufwand der privaten Pflege für viele kaum zu stemmen, so Bentele. "Deswegen wollen viele immer noch Einrichtungen finden, aber da gibt es eben zu wenige Plätze und zu wenige Möglichkeiten."
Die Einrichtungen sind entweder nicht auf Menschen mit Mehrfachbehinderung ausgerichtet oder völlig überlastet. Es fehlen Wohnheimplätze, Personal und vor allem Geld. Ein Problem, das man vor Jahren hätte angehen müssen, so Kunigunde Frey, Bereichsleiterin der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten in München. Dort leben schwerbehinderte Erwachsene, die rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen sind.
In den Wohn- und Werkstätten haben sie ihr Zuhause fürs Leben gefunden. Mehr Leute aufnehmen können sie aktuell nicht mehr. Die Einrichtung ist vollständig ausgelastet, sagt Frey. Ihr Vorwurf: Dass mehrfach behinderte Menschen auch nach der Schule auf Betreuung angewiesen sind, wurde schlichtweg lange nicht beachtet: "Es kann nicht sein, dass man, wenn man weiß, wie viele Schüler man hat, nicht weiß, was das für Folgekosten hat und dass die Folgekosten nicht nach dem 21. Lebensjahr aufhören."
Seit Jahren geht sie deshalb auf Politiker zu und verlangt nach Aufmerksamkeit. "Bitte, Sie müssen uns sehen. Wir sind ein Teil der Bevölkerung und wir brauchen die Unterstützung", fordert sie. "Alle sind nett, aber es passiert nichts."
Föderales System als Hauptproblem
Der Bund verweist größtenteils auf die Länder. Vom bayerischen Sozialministerium heißt es zum Beispiel: Es tue schon einiges - mit freiwilligen Millionenbeträgen an die zuständigen Bezirke. Von diesen seien bereits neue Heime gebaut worden, auch für Menschen mit Mehrfachbehinderung.
Der Bezirk Niederbayern, der für Vincent zuständig ist, teilte mit, er versuche zu helfen, habe aber selbst bisher keinen Betreuungsplatz finden können. In den übrigen Bezirken, im benachbarten Oberbayern etwa, werden andere priorisiert. Eine landesweite Koordination gibt es nicht, jede Anfrage stellt Familie Kaendler selbst.
Entsprechend dauert die Suche nach einem Wohnplatz für Vincent und zahlreiche andere Familien in ganz Deutschland weiter an. Noch fährt er unter der Woche ins Internat. Aber die Zeit dort läuft ab. Falls Vincent keinen Platz in einer Einrichtung für Erwachsene bekommt, werden die Anstrengungen des Wochenendes für Vincents Eltern bald zum Dauerzustand.
Zu diesem Thema läuft am Dienstag, 21. Mai, um 18 Uhr eine Reportage im BR.