Coronavirus Was wurde aus der Herdenimmunität?
Lange Zeit galt die Herdenimmunität als der Ausweg aus der Pandemie. Mittlerweile ist diese Hoffnung bei vielen Experten verflogen. An wem liegt's?
Der Chef des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler hat das Wort Herdenimmunität in Bezug auf Covid-19 bereits im November aus seinem Vokabular gestrichen. Das Virus werde nicht komplett verschwinden, sagte er auf einer Bundespressekonferenz.
Herdenimmunität bedeutet, dass ein großer Teil der Bevölkerung immun gegen einen Erreger ist, sodass die Infektionsketten früh abreißen. Dadurch sind dann auch nicht immune Menschen vor einer Infektion geschützt. Gerhard Scheuch, Aerosolforscher und Physiker, teilt die Einschätzung Wielers: Eine Herdenimmunität sei mit den aktuell zugelassenen Impfstoffen nicht erreichbar.
Zwar ist im Fall von Covid-19 der individuelle Schutz vor einer schweren Erkrankung durch die Impfung sehr hoch - etwa bei 93 Prozent. Der Schutz vor einer Infektion mit Omikron ist aber deutlich geringer - die Impfstoffe erzeugen keine sterile Immunität. Das bedeutet, dass sie zwar eine Immunabwehr erzeugen, die die Krankheit unterbindet, allerdings reicht das oft nicht aus, um das Virus vollständig zu eliminieren. Auch wenn eine geimpfte Person keine Symptome zeigt, kann sie das Virus an andere weitergeben.
Virus kann von Tieren auf Menschen überspringen
Außerdem kann das Virus laut Aerosolforscher Scheuch auch in anderen Spezies überleben und dann wieder auf den Menschen zurückspringen. Diese Einschätzungen bestätigen auch Studien aus Dänemark und den Niederlanden, die die Übertragung des Virus von Nerzen auf Menschen in Zuchtbetrieben untersuchten. Darin kamen die Forschenden zu dem Schluss, dass sich Betriebszugehörige mit hoher Wahrscheinlichkeit bei den Tieren angesteckt hätten. Diese Eigenschaft des Virus macht es quasi unmöglich, einen Herdenschutz zu erreichen.
Auch Reinhold Förster, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, glaubt derzeit nicht an einen Gemeinschaftsschutz: "Eine Person, die nicht geimpft ist und nur von Geimpften umgeben wird, die ist überhaupt nicht geschützt, weil die Geimpften nach wie vor Träger des Virus sein können."
Auch deshalb heißt für Immunologe Förster der Weg aus der Pandemie aktuell nicht Herdenimmunität. Er setzt darauf, dass die Bevölkerung durch wiederholte Kontakte mit dem Virus allmählich mehrere Schichten von Immunität aufbaut: So sei es durchaus möglich, dass sich Menschen, die bereits im Dezember an der Omikron-Variante erkrankt seien, im April wieder infizieren. Das sei aber weniger schlimm, da bereits ein gewisser Grundschutz bestehe. Dieser Mechanismus trage so allmählich dazu bei, dass sich die Situation normalisiere, erläutert Förster.
Herdenschutz oder Herdenimmunität?
Einen anderen Blick auf die Frage nach der Herdenimmunität hat Martina Prelog, Immunologin und Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin vom Universitätsklinikum Würzburg. Sie verweist darauf, dass der Begriff Herdenimmunität unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Viele verstünden den Begriff heute aus Sicht der Epidemiologie. Dort beziehe sich das Verständnis eher auf den Begriff Herdenschutz, also den Effekt, dass ausreichend viele Individuen einer Gruppe immun sind und so auch nicht Immune vor einer Ansteckung schützen.
Im Gegensatz dazu, erklärt Prelog, bedeute Herdenimmunität für Immunologen, wie viele Individuen einer Gruppe immun sind. In diesem Sinne sei eine ausreichend hohe Herdenimmunität, also ein ausreichend hoher Anteil immuner Personen, um beispielsweise das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, durchaus erreichbar. Dies bedeute dann allerdings trotzdem, dass sich nicht immune Menschen mit dem Virus infizieren können.
Entscheidend für diese Art der Herdenimmunität sei, wie viele Menschen geimpft oder genesen sind und wie lange der Schutz nach einer Impfung oder einer Infektion anhält.
In einer Studie ist Prelog mit anderen Forschenden zu dem Schluss gekommen, dass eine Person dreimal mit dem Virus in Kontakt kommen müsse, um genügend neutralisierende Antikörper zu haben, um auch gegen Omikron ausreichend geschützt zu sein. Wie lange der Schutz nach dreimaligem Kontakt - entweder durch Impfung oder Erkrankung - anhalte, sei allerdings noch schwer abzuschätzen, "aber wahrscheinlich mindestens sechs bis zwölf Monate basierend auf aktuellen Studien, wenn nicht sogar länger", so Prelog.
Deshalb ist eine hohe Impfquote dennoch wichtig
Unabhängig von der genauen Definition von Herdenimmunität sind sich Prelog und Förster aber einig: Auf dem Weg heraus aus der Pandemie ist eine hohe Impfquote auch weiterhin sehr wichtig. Wie wichtig, verdeutlicht der Vergleich der derzeitigen Corona-Situation in Chinas Sonderverwaltungszone Hongkong sowie in Neuseeland.
Sowohl in Neuseeland als auch in Hongkong galt lange die No-Covid-Strategie. Dort gab es in den letzten beiden Jahren nur sehr wenige Corona-Fälle. Von Mitte Februar an stiegen die Inzidenzen in beiden Regionen dann ähnlich stark an, die Todesrate unterscheidet sich jedoch deutlich.
Während diese in Neuseeland bei rund zwei Personen pro eine Million Einwohner liegt (Stand 22.03.2022), verzeichnete Hongkong Mitte März die höchste Todesrate, die seit dem Beginn der Pandemie weltweit gemessen wurde: Fast 38 Tote pro eine Million Einwohner wurden registriert. Der Unterschied zwischen den beiden Regionen: die Impfquote. In Hongkong waren 88 Prozent der Verstorbenen nicht vollständig geimpft (Stand 18.03.). Die Skepsis gegenüber der Impfung ist hier gerade in den älteren Bevölkerungsgruppen hoch - nicht einmal 40 Prozent der über 80-Jährigen sind dort mindestens zwei Mal geimpft (Stand 22.03.2022). Zum Vergleich: In Neuseeland sind es gut 98 Prozent.
Diese Zahlen stützen die Einschätzung von Prelog und Förster: Der individuelle Schutz vor schweren Verläufen ist nach dreifacher Impfung auch bei der Omikron-Variante weiterhin sehr hoch. Menschen, die allerdings noch nicht geimpft oder genesen sind, können aktuell nicht indirekt geschützt werden - selbst bei einer hohen Impfquote.