LKA-Chef Heinke zu Gefährdern "Erschreckend hohe Zahl von Hochrisikofällen"
Mit einem neuen Analysesystem schätzen die deutschen Sicherheitsbehörden die Gefährlichkeit radikaler Islamisten ein. Die ersten Zwischenergebnisse zeigen dem LKA-Chef von Bremen, Heinke, zufolge eine "erschreckend hohe Zahl von Hochrisikofällen".
tagesschau.de: Herr Heinke, seit vergangenem Jahr gibt es RADAR-iTE. Mit dem Tool kann das BKA erstmals einheitlich islamistische Gefährder nach Risiko kategorisieren. Eine Zwischenauswertung zeigt nun: Mehr als die Hälfte der untersuchten Gefährder fallen nicht in die Kategorie "hohe Gefahr". Einige Medien titeln schon, dass einige islamistische Gefährder nicht so gefährlich wie gedacht seien. Haben sich die Sicherheitsbehörden bei einigen Gefährder-Einstufungen vertan?
Daniel Heinke: Nein. Bei der Darstellung der Zwischenergebnisse ist bei einigen die Kernbotschaft nicht angekommen. Aus den Zahlen ergibt sich nach meiner Bewertung eine erschreckend hohe Zahl von Hochrisikofällen, denen die Sicherheitsbehörden besondere Beachtung schenken müssen. Daraus abzuleiten, dass Personen aus niedrigeren Kategorien nicht gefährlich seien, halte ich für einen Fehlschluss.
Daniel Heinke ist Leiter des Landeskriminalamts Bremen, Honorarprofessor für Terrorismusforschung an der HfÖV Bremen und Associate Fellow des International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR), King's College.
tagesschau.de: Warum?
Heinke: Weil alle untersuchten Personen vorher durch die Polizei der Länder als Gefährder eingestuft worden sind, also als eben jene, denen auf Grund ihrer politischen Motivaton ein Anschlag zuzutrauen ist. Um dann polizeiliche Maßnahmen bestmöglich einzusetzen, hilft RADAR-iTE nun, innerhalb der Gruppe die Gefährlichsten zu identifizieren. Aber das heißt nicht, dass wir die anderen außer Acht lassen.
Risikoeinschätzungen sind Momentaufnahmen
tagesschau.de: Sollten Sie als LKA-Chef in einem kleinen Bundesland wie Bremen mit wenig Mitteln und relativ großer islamistischer Szene nicht dankbar sein, wenn ihnen RADAR-iTE ein paar Gefährder raus rechnet?
Heinke: Ich erwarte nicht, dass das flächendeckend passieren wird. Natürlich sind Risikoeinschätzungen immer Momentaufnahmen. Es kann also immer sein, dass sich Personen und externe Faktoren so entwickeln, dass der Betroffene aktuell nicht mehr als so gefährlich eingestuft werden muss. Dabei kann auch RADAR-iTE helfen. Ich glaube aber nicht, dass das ein Massenphänomen in Deutschland sein wird.
tagesschau.de: Die Definition des Begriffs "Gefährder" stammt aus dem Jahr 2004 und ist genau einen Satz lang. Einige kritisieren, dass der Begriff zu unbestimmt und veraltet ist.
Heinke: Im Moment ist er noch Grundlage unserer polizeilichen Arbeit und für uns handhabbar. Man muss wissen: Nur weil jemand als Gefährder eingestuft wird, heißt es nicht, dass er schon belastet ist oder automatisch überwacht wird. Das müssen wir alles im Einzelfall begründen, auch vor einem Richter, wenn nötig. Die bloße Einstufung reicht da nicht aus.
tagesschau.de: Wozu brauchen wir dann noch den Begriff Gefährder?
Heinke: Weil andere Begriffe auch ungenau sind: Tatverdächtig wäre man nur, wenn es eine konkrete Tat gibt. Beschuldigter wäre falsch, weil sie dann bereits ein Ermittlungsverfahren gegen die Person laufen hätten.
Es geht uns darum, Begrifflichkeiten für eine Personengruppe zu definieren, mit denen wir dann innerbehördlich umgehen können. Sie werden gemerkt haben, dass sich Polizeibehörden fast nie zu konkreten Personen verhalten, also bestätigen, dass es sich um einen Gefährder handelt. Der Begriff hat für uns in der Außendarstellung keine große Bedeutung.
Eher Belastungsindikator als Bedrohungsfaktor
tagesschau.de: Dafür, dass der Begriff nach außen keine Bedeutung hat, liest man aber erstaunlich viel über Gefährderzahlen.
Heinke: Wir in Bremen achten in der Öffentlichkeitsarbeit darauf, nicht zu offensiv mit Zahlen umzugehen. Sie werden keine konkrete Zahl von uns bekommen, wie viele Gefährder wir ganz genau führen, weil wir Missverständnissen vorbeugen wollen.
Eine Person kann auch gefährlich sein, wenn sie nicht als Gefährder kategorisiert ist. Die Tatsache, dass jemand als Gefährder geführt wird, heißt nicht, dass er morgen gleich einen Anschlag begehen wird. Deswegen sind wir zurückhaltend mit Zahlen.
tagesschau.de: Dennoch scheint das öffentliche Interesse daran, wie viele und was für eine Art von Gefährdern in Deutschland herumlaufen, nach wie vor groß. Welche Aussagekraft haben denn diese Zahlen überhaupt? Große Zahl ist gleich große Gefahr?
Die Definition für den Begriff Gefährder stammt aus dem Jahr 2004.
Heinke: Es ist ein Belastungsindikator. Eine hohe Anzahl an Gefährdern heißt erst einmal nur, die Behörden sind belastet, weil wir alle diese Personen im Auge behalten müssen.
Doch in die Zahlen spielen ja weitere Faktoren rein. Mitgezählt werden ja auch jene, die sich gerade gar nicht in Deutschland befinden oder jene, die im Gefängnis sitzen. Von denen geht erst mal keine unmittelbare Gefahr aus. Sie bedeuten für uns aber eine Menge Arbeit. Zahlen sind also weniger ein Bedrohungsfaktor als ein Belastungsindikator für die Behörden.
tagesschau.de: Das heißt aber auch: Viele Gefährder zu melden, bedeutet für eine Sicherheitsbehörde auch potentiell einfacher an Haushaltsmittel zu kommen. Gibt es eine politische Komponente beim Zählen der Gefährder?
Heinke: Dafür habe ich keine Anhaltspunkte. Für Bremen kann ich jedenfalls feststellen, dass wir diese Einstufung ausschließlich nach fachlichen Gesichtspunkten vornehmen.
Das Interview führte Nino Seidel, NDR, für tagesschau.de