Kommentar Ein Weckruf aus Irland
Die irische Entscheidung gegen den EU-Reformvertrag ist ein heftiger Rückschlag für die Fortentwicklung der Union. Sie ist aber auch das Symptom einer mangelnden Begeisterung für das Projekt Europa. Diese zu wecken, muss jetzt eine vorrangige Aufgabe der Politik sein.
Von Holger Senzel, NDR-Hörfunkstudio London
Ein Stolperschritt für Irlands Premier Brian Cowen - ein tiefer Sturz für Europa. Irland hat Nein gesagt zum EU-Reformvertrag - und sowohl in Dublin als auch Brüssel dürfte jetzt bestürzte Ratlosigkeit herrschen. Das Ergebnis ist noch viel schlimmer, als es auf den ersten Blick aussieht. Mehr als die Hälfte haben gegen den Vertrag von Lissabon gestimmt. Die Hälfte von 40 Prozent, so niedrig war die Wahlbeteiligung.
Die Profiteure blockieren
Das bedeutet, dass sich über 80 Prozent der irischen Wähler entweder gar nicht für die EU interessieren, oder ihr mit Misstrauen und Abneigung begegnen - und das, obwohl Irland einer der ganz großen Gewinner der Union ist. Ohne die Brüsseler Fördermilliarden hätte der Umbau vom Armenhaus Europas zum Celtic Tiger nie funktioniert. Sind die Iren also besonders undankbar - weil sie Europa so wenig Liebe entgegenbringen, obwohl sie der Union doch so viel zu verdanken haben?
Aber wieso eigentlich nur die Iren? Wir alle sind Gewinner der Europäischen Union. Die Schlagbäume zwischen den Nationen haben sich geöffnet; wir müssen bei Reisen kein Geld mehr umtauschen; können uns in ganz Europa einen Job suchen. Um jetzt nicht von für die meisten eher abstrakten Dingen wie starker Wirtschaft und harter Währung zu sprechen.
Vision oder bürokratisches Monster?
Aber assoziieren die meisten EU-Bürger mit Europa nicht eher eine überbordende, nicht fass- und begreifbare Bürokratie - als tatsächlich eine Vision? Viele Iren haben mit Nein gestimmt, weil sie den Reformvertrag, um den es ging bei dem Referendum, nicht verstanden haben. Aber wieso eigentlich nur die Iren. Hand aufs Herz: Wissen Sie, was da tatsächlich drin steht im Vertrag von Lissabon? Und weil jetzt in Brüssel vermutlich alle mit dem Finger nach Irland zeigen und sagen: Die sind Schuld? Glauben Sie, dass es tatsächlich bei einem irischen Nein geblieben wäre - wenn mehr Regierungen ihr Volk darüber hätten abstimmen lassen?
Der Luxemburger Jean-Claude Juncker brachte es auf den Punkt, als er selbstkritisch eingestand, die Politiker in Europa sprächen eine Sprache, die ihre Bürger nicht verstehen. 279 Wörter zählen die 10 Gebote; 300 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung - 25.911 Wörter die EU-Verordnung über den Import von Karamell-Bonbons. Oft wird dieser Vergleich zitiert - weil er eine Menge darüber aussagt, wie die EU wahrgenommen wird. Nämlich als kleinkarierter Brüsseler Bürokratenverein, der allen das Leben schwer macht. Die Politiker haben versagt darin, ihren Bürgern die europäische Idee nahe zu bringen - und sie sollten das irische Nein als Weckruf begreifen.
Faszinieren statt enervieren
Ein altes Sprichwort sagt: Wer Menschen bewegen will, ein Schiff zu bauen, der sollte sie nicht zum Holzhacken schicken, sondern in ihnen die Sehnsucht wecken nach der unendlichen Weite des Meeres. Wer die Menschen mit nach Europa nehmen will, der sollte nicht von Milchquote und Subventionen sprechen, sondern von offenen Grenzen, einheitlicher Währung und dem faszinierenden Gedanken, eines Tages Bürger des vielfältigsten Staates dieser Erde zu werden: der Vereinigten Staaten von Europa.
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