150 Jahre deutsche Sozialdemokratie "Eine Volkspartei - im wahrsten Sinne"
Egon Bahr ist 91, die SPD 150 Jahre alt. Die beiden haben viel zusammen erlebt: Freundschaften, Eitelkeiten, Fehler und mutige Entscheidungen. Der enge Vertraute von Willy Brandt wirft einen ganz persönlichen Blick auf seine Partei. Ein Leben ohne SPD? Unvorstellbar - obwohl die Partei ihn erst im dritten Anlauf haben wollte.
tagesschau.de: 150 Jahre deutsche Sozialdemokratie, damit ist die SPD die älteste demokratische Partei Deutschlands. Was sind für Sie die drei wichtigsten Beiträge der SPD zur deutschen Geschichte?
Egon Bahr: Die SPD war die weltweit erste Partei, die vorgeschlagen hat, Frauen als gleichberechtigten Teil der Gesellschaft zu behandeln. Ohne die SPD hätte es kein Wahlrecht für Frauen gegeben.
tagesschau.de: Und die zwei weiteren für Sie wichtigsten SPD-Entscheidungen?
Bahr: Dass die Partei in der Frage der Diktatur des Proletariats und der Evolution klaren Kurs gehalten hat. Also: Die Kommunisten - nicht zuletzt die Sowjetunion - waren der Auffassung, dass, wer die Macht einmal hat, sie nicht mehr abgibt. Die Sozialdemokraten haben sich den demokratischen Wahlergebnissen unterworfen. Diese Frage ist dann letztlich durch Michail Gorbatschow entschieden worden mit seiner Erklärung "Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen".
Die dritte wichtige Entscheidung ist selbstverständlich die Erklärung des einzigen Teils des Reichstages 1933, der sich dem Ermächtigungsgesetz widersetzt hat mit dem berühmten Satz "Freiheit und Leben könnt ihr uns nehmen, aber nicht die Ehre".
tagesschau.de: Die Worte des damaligen SPD-Vorsitzenden Wels zum Ermächtigungsgesetz ...
Bahr: Otto Wels, ja.
Mit einem Ermächtigungsgesetz überträgt das Parlament der Regierung faktisch alle Macht. Am 23. März gelingt es Adolf Hitler, im Reichstag eine Mehrheit für sein "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" zu bekommen. Alle Parteien außer der SPD stimmten für die Selbstentmachtung des Parlaments. Die kommunistischen Abgeordneten waren bereits inhaftiert. Mit einer mutigen Rede stellte sich der damalige SPD-Vorsitzende Otto Wels den Nationalsozialisten entgegen. Wels verließ wenig später Nazi-Deutschland. Er starb 1939 in Paris.
tagesschau.de: Was waren für Sie Ihre wichtigsten Momente mit der SPD?
Bahr: Dass ich von einem Mitarbeiter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zu einer wirklichen Freundschaft mit ihm gefunden habe. Und dass ich das Glück hatte, mir etwas ausdenken zu können, es dann erproben und durchführen zu können und das Ergebnis erlebt habe: nämlich die deutsche Einheit.
tagesschau.de: Glück oder Diplomatie?
Bahr: Sie müssen berücksichtigen, dass das, was wir uns im Planungsstab während der Großen Koalition zwischen 1966 bis 1969 ausgedacht haben, zunächst in den USA erprobt worden ist. Ohne die Duldung der Amerikaner wäre es ein unverantwortbares Abenteuer gewesen, mit Moskau zu reden. Und danach habe ich auch dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko unser Konzept genauso vorgetragen wie gegenüber Henry Kissinger. Und das hat dann funktioniert.
Gerade hat Egon Bahr seinen 91. Geburtstag gefeiert. Seine politische Karriere begann der Journalist Bahr 1956 an der Seite des gerade zum Kanzlerkandidaten gekürten Willy Brandt als Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin. 1966 folgte er Brandt als Leiter des Planungsstabs ins Bonner Auswärtige Amt und von dort 1969 ins Kanzleramt. Hier war er als Staatssekretär für die Verhandlungen mit der Sowjetunion und der DDR verantwortlich. Von 1972 bis 1974 war Bahr Bundesminister für besondere Aufgaben und von 1974 bis 1976 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Als Vordenker und Mitgestalter der Ostpolitik der Regierung Brandt prägte er das Motto "Wandel durch Annäherung".
tagesschau.de: Dabei war es anfangs gar nicht einfach für Sie, SPD-Mitglied zu werden. Warum wollten die Genossen Sie erst nicht?
Bahr: Ich habe 1949 als Korrespondent in Bonn festgestellt, dass die SPD die einzige Partei war, die sich als oberstes Ziel die deutsche Einheit gesetzt hat. Auf meine Frage nach einer Mitgliedschaft antwortete der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher: "Junger Freund, mir ist lieber, Sie werden uns nicht zugerechnet." Ein paar Jahre später habe ich die gleiche Frage dem damaligen Vorsitzenden in Berlin, Willy Brandt, gestellt. Der sagte: "Unter Umständen kann man von außen mehr bewegen als von innen."
tagesschau.de: Damit waren Sie zum zweiten Mal abgewiesen ...
Bahr: Ich nehme an, heute würde das nicht mehr so sein. 1956 dann, beim Aufstand der Ungarn, habe ich Herrn Brandt gesagt: "Jetzt bestehe ich darauf, Mitglied Ihrer Partei zu werden. Die bekommt nämlich eine krachende Wahlniederlage im nächsten Jahr", also 1957. Und daraufhin sagte er milde lächelnd: "Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen." So bin ich dann endlich Mitglied geworden.
tagesschau.de: Und Brandt hat es später auch nicht bereut ...
Bahr: Ich glaube nicht. Nein.
tagesschau.de: Willy Brandt wurde der erste SPD-Kanzler nach 1945. Sie waren sein enger Begleiter, Vertrauter - und sogar ein Freund. Sie blieben aber immer der Strippenzieher im Hintergrund. Im Rampenlicht stand Brandt. Ist Ihnen Eitelkeit fremd?
Bahr: Es gibt keinen Menschen - egal ob in der Wirtschaft, in der Kunst oder in der Politik - der frei ist von Eitelkeit. Doch auf dem Gymnasium habe ich den antiken griechischen Gedanken "Erkenne dich selbst" gelernt - und mir zu eigen gemacht. Für mich war klar: Weder hatte ich die Faszination, über die Brandt verfügte, noch hatte ich seinen Mut. Ich akzeptiere, dass man mich zum Architekten der Ostpolitik ernannt hat, wohl wissend, dass der Bauherr entscheidend ist. Das war und blieb immer Brandt.
tagesschau.de: Sie erwähnten Brandts Charisma. Die SPD hat seit 1945 noch zwei weitere Kanzler gestellt: Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Sie haben alle drei kennengelernt. Wo sind die Unterschiede zwischen ihnen?
Bahr: Schmidt hatte am Anfang Sorge, er würde nur als Fußnote in der Geschichte erscheinen, was bekanntlich eine Fehleinschätzung wurde. Und Schröder hatte den Mut, zum ersten Mal zu sagen, dass Deutschland ein normaler Staat geworden ist. Das erstaunte viele im In- und im Ausland, aber führte letztlich dazu, dass sich Deutschland am Krieg im Irak nicht beteiligt hat.
tagesschau.de: Die SPD möchte im September zum vierten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte den Bundeskanzler stellen. Wie würden Sie Ihrem Freund Willy Brandt den Zustand der SPD heute beschreiben?
Bahr: Es ist die Geschichte eines großen Erfolges, zu sehen, dass die gegenwärtige Bundeskanzlerin Angela Merkel die CDU weiter sozialdemokratisiert hat. Und dann ist es doch besser, das Original zu wählen.
tagesschau.de: Und wie würden Sie ihm Peer Steinbrück beschreiben?
Bahr: Es gibt wenig Leute, die kompetenter sind für die Themen Finanzen und Wirtschaft. Solange er an der Seite von Merkel gestanden hat, war mit unseren Finanzen auch alles in Ordnung. Jetzt ist es an der Zeit, ihm die Verantwortung für das Ganze zu geben.
tagesschau.de: Und was ist mit Kompetenz bei Ur-SPD-Themen wie soziale Gerechtigkeit?
Bahr: Es ist doch richtig, wenn man einen Fehler als Fehler erkannt hat. Und die Ernennung von Klaus Wiesehügel ist der beste Beweis dafür.
tagesschau.de: Nur ein glaubwürdiger Kandidat kann Kanzler werden. Hier hapert es bei Steinbrück.
Bahr: Ach, Quatsch. Und wer stellt eigentlich mal die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Merkel? Was will sie wirklich? Außer, dass sie Kanzlerin bleiben will?
tagesschau.de: Dennoch: Die Situation der SPD könnte besser sein. 150 Jahre nach ihrer Gründung und vier Monate vor der Bundestagswahl läuft es nicht rund. Wo hakt es?
Bahr: An solchen Spekulationen beteilige ich mich nicht, nachdem ich erlebt habe, dass die deutsche Ost- und Entspannungspolitik unpopulär gewesen ist - bis wir sie gemacht haben. Genauso weiß man erst, dass jemand Kanzler ist, wenn er es geworden ist. Für mich ist die Wahl noch nicht entschieden.
tagesschau.de: Oskar Lafontaine sieht die deutsche Sozialdemokratie grundsätzlich auf Abwegen. Ist die SPD heute mehr eine bürgerliche Partei als eine Arbeiterpartei?
Bahr: Die SPD ist keine marxistisch-leninistische Partei mehr seit dem Godesberger Programm von 1959.
Die SPD ist eine klassische Programmpartei. Seit 1863 hat sie sich acht Grundsatzprogramme gegeben. Am bekanntesten ist das Godesberger Programm von 1959, das gemeinhin unter der Überschrift "Abschied vom Marxismus" firmiert. Es wurde für 30 Jahre Richtschnur der Partei und ebnete den Weg hin zu einer Volkspartei mit über einer Million Mitgliedern in den 70er-Jahren. Der Weg zum Sozialismus war nun nicht mehr das erklärte Ziel. Die Partei bemühte sich um eine Annäherung an die katholische Kirche und versuchte, auch für die Wirtschaft attraktiver zu werden.
tagesschau.de: Das Etikett "bürgerliche Partei" passt also für die heutige SPD?
Bahr: Nein. Sie ist eine Volkspartei - im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist egal, ob jemand von den Grundsätzen des Marxismus herkommt, von der Bibel oder religiös nicht gebunden ist: Wichtig ist, dass er sich zu den Grundsätzen der Partei bekennt.
tageschau.de: Eine Volkspartei, die bei 23 Prozent liegt ...
Bahr: Die bei 23 Prozent gewesen ist. Nun warten Sie doch mal ein bisschen ab!
tagesschau.de: Ich bin gespannt. Aber sagen Sie bitte mit Blick auf die sozialdemokratische Merkel-Union: Wozu braucht es die SPD noch?
Bahr: Damit wir der Gerechtigkeit in der Gesellschaft wieder näher kommen. Und im Interesse der Stabilität unserer Republik. Die beiden großen Parteien müssen sich abwechseln an der Regierung. Eine Große Koalition ist Gift.
tagesschau.de: Brandt sagte einmal: "Sie hat den Geschmack widernatürlicher Unzucht" ...
Bahr (lacht): Richtig. Ich würde sagen: Sie hat ein bisschen den Geruch widernatürlicher Unzucht.
tagesschau.de: Sie sind 91 Jahre alt. Mehrmals die Woche gehen Sie ins Willy-Brandt-Haus in Ihr Büro. Können Sie sich ein Leben ohne SPD vorstellen?
Bahr: Nein. Warum sollte ich?
Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de