Grüne im Höhenflug "Der Erfolg ist auch ein Risiko"
Für die Grünen bergen ihre jüngsten Wahlerfolge und Umfragerekorde auch Risiken. Schließlich hat die Partei hohe Erwartungen geweckt. Sobald sie mitregieren, müssen sie liefern, sagt ARD-Korrespondent Schwenck.
tagesschau24: Die Grünen schweben also in ungeahnter Höhe. Läuft sich Parteichef Robert Habeck vielleicht heimlich doch schon als neuer Bundeskanzler warm?
Volker Schwenck: Wenn man ihn fragen würde, den Robert Habeck, ob er sich warmläuft, dann würde man wahrscheinlich eine sehr nachdenkliche, fast philosophische Antwort bekommen, die man dann hinterher sehr schwer deuten könnte.
Aber natürlich ist es eine Machtoption und das wissen die Grünen, dass eine Regierungsbeteiligung für sie mittlerweile in sehr greifbare Nähe gerückt ist. Zu dieser Umfrage - die ist ja eine Momentaufnahme. Es gibt andere Meinungsforschungsinstitute, die sehen nach wie vor die Union vor den Grünen. Das würde dann die Kanzlerfrage auch klären.
Allerdings gibt es auch diesbezüglich eine Anregung: Warum nicht eine Doppelspitze? Den nachdenklichen philosophischen Habeck für die großen Ideen, die großen Züge als 'Teilkanzler' und den anderen Teil der Kanzlerschaft, das könnte Annalena Baerbock machen, das pragmatische Herz dieser Partei. Leider sieht das Grundgesetz so etwas im Moment noch nicht vor.
Realitätsüberprüfung ist entscheidend
tagesschau24: Das Ganze wäre ja jetzt auch wirklich eine sehr große Fallhöhe für die Grünen. Können sie all das, was sie versprechen oder was die Menschen sich von ihnen versprechen, überhaupt einhalten?
Schwenck: Das weiß man jetzt natürlich noch nicht, ob sie das können. Aber was man weiß, ist, dass es der grünen Parteispitze sehr bewusst ist, dass dieser Auftrag, so hat Habeck es in der Nacht der Europawahl genannt, nach Antworten, nach Lieferungen verlangt. Und wenn die Grünen dann mal in Regierungsverantwortung sind, dann müssen sie auch liefern. Dann müssen sie auch zu diesen Themen, vor allem dem Klimaschutz natürlich, etwas Habhaftes vorlegen. Das ist gar nicht so einfach, wie wir wissen.
"Der Fortschritt ist eine Schnecke" - stammt aus dem Jahr 1972 von Günter Grass. Damals hat er die SPD unterstützt. Fortschritt geht nicht so schnell und das wissen auch die Grünen. Wenn die Realitätsüberprüfung kommt, dann werden sie wohl auch wieder an Zustimmung verlieren, aber trotzdem: Im Moment schwimmen die Grünen auf einer Erfolgswelle.
Habeck hat nach der Europawahl gesagt: "Wir haben so viele Posten bekommen, wer bei drei nicht Nein gesagt hat, der hat ein Mandat, der hat irgendein Amt."' Auch das ist natürlich ein Risiko für diese Partei. Kann sie ihren großen Erfolg personell überhaupt schultern? Kann sie auch da liefern, Leute in Ämter bringen?
Grüne überzeugen auch in Ostländern
tagesschau24: Ist denn die Beliebtheit der Grünen eigentlich nach wie vor eher ein West-Phänomen?
Schwenck: Nein, das ist lange vorbei. Die Europawahlen und vor allem auch die Kommunalwahlen im Osten haben gezeigt, dass die Grünen auch dort sehr stark zulegen und zwar vor allem in den Städten natürlich, aber auch auf dem Land. In Leipzig sind die Grünen bei den Europawahlen stärkste Kraft geworden und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern namens Kieve. Also da tut sich was. Natürlich sind die Grünen im Westen insgesamt noch stärker, aber im Osten ist die Lage sehr dynamisch und der Spruch, dass die Grünen eine reine Westpartei seien, der stimmt schon lange nicht mehr.
tagesschau24: Es gibt ja jetzt sehr viele SPD- und Unionspolitiker, die auf einmal sehr auf Klimaschutz setzen. Die Kanzlerin sagt auch, die Klimaziele stünden natürlich ganz oben auf der Tagesordnung der Bundesregierung. Nehmen Sie ihr das ab?
Schwenck: Entscheidend ist, was die Wähler glauben und die nehmen es der Kanzlerin und der Regierungskoalition ganz offenbar nicht ab. Es ist aber auch relativ leicht zu verstehen: Klimaschutz, Umweltschutz das ist nun mal der Markenkern der Ökopartei Grünen. Die CDU stand eigentlich lange Zeit für Wirtschaft, da gibt es heftige Streitereien innerhalb der Union, ob dieses Wirtschaftsthema in der Union noch stark genug gemacht wird.
Und die SPD stand für soziale Gerechtigkeit. An die Hartz-IV-Debatte erinnern wir uns noch. Man kann sagen, die zwei großen Volksparteien haben ihren Markenkern in den vergangenen Jahren so ein bisschen verloren. Die Grünen haben ihn eher gestärkt und möglicherweise profitieren sie genau davon.
Das Interview führte André Schünke, tagesschau24