KBV-Kritik an Impfstrategie Lauterbachs Ziel ist "unrealistisch"
Die Kassenärzte haben Gesundheitsminister Lauterbach vorgeworfen, mit seiner Impfstrategie bis zu hundert Millionen Euro zu verschwenden. Außerdem kritisierte der Kassenärztechef die pauschale Empfehlung zur vierten Impfung.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach eine "falsche" Impfstrategie vorgeworfen, bei der bis zu hundert Millionen Euro verschwendet würden. Lauterbach plane bis zu 60 Millionen Impfungen im Herbst und Winter, sagte der Vorsitzende der Bundesvereinigung, Andreas Gassen, der "Neuen Osnabrücker Zeitung".
Nur 30 Millionen Impfungen - statt 60
Nach einer Kalkulation seiner Vereinigung sei jedoch nur mit höchstens 30 Millionen Impfungen zu rechnen. Dabei seien ein zweiter Booster für alle ab 60, ein erster Booster für alle Jüngeren und ein üppiges Kontingent für Ungeimpfte großzügig eingerechnet.
Das Ziel der Bundesregierung von 50 bis 60 Millionen Impfungen "ist unseres Erachtens unrealistisch", sagte Gassen. Sollte Lauterbach wie von Medien berichtet mehr als 200 Millionen Dosen bestellt haben, "ist zu erwarten, dass Impfstoff im Wert von möglicherweise hundert Millionen Euro oder mehr weggeworfen werden muss".
Gassen: Isolations- und Quarantänepflichten aufheben
Gassen sprach sich außerdem für eine Aufhebung aller Corona-Isolations- und Quarantänepflichten aus. Diese sollten "bis auf weiteres aufgehoben werden, dadurch würde die Personalnot vielerorts gelindert", so der Kassenärztechef weiter. "Wir müssen zurück zur Normalität. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit. So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch."
Lauterbach lehnte Forderungen nach einem Ende der Isolationspflicht für Corona-Infizierte ab. "Infizierte müssen zu Hause bleiben", schrieb er auf Twitter. "Sonst steigen nicht nur die Fallzahlen noch mehr, sondern der Arbeitsplatz selbst wird zum Sicherheitsrisiko."
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, hielt Gassen "Opportunismus" vor. "Die Isolation schützt. Denn so wird verhindert, dass sich andere anstecken. Long- und Post-Covid sind die Folgen. Schon über fünf Millionen Genesene leiden darunter." Gassen spiele mit der Gesundheit der Menschen, so Brysch.
Gassen bezeichnete die Omikron-Virusvariante "fast als Friedensangebot des Virus". Wer sich nach einer Dreifachimpfung anstecke, "profitiert sogar von einer Infektion, indem er oder sie eine Schleimhautimmunität erwirbt". Niemand sollte sich deshalb aber aktiv anstecken. "Aber wir können uns nicht dauerhaft vor dem Virus verstecken. Und wir sind das letzte Land in Europa, das noch derart aufgeregt über einen Corona-Notstand diskutiert", urteilte Gassen.
"Pauschale vierte Impfung falsch"
Der Kassenärztechef kritisierte außerdem den Rat des Gesundheitsministers an unter 60-Jährige, sich rasch eine zweite Boosterimpfung zu holen. "Unter anderem aus israelischen Studien wissen wir, dass ein zweiter Booster bei jüngeren Gesunden nicht sinnvoll ist", betonte Gassen. Lauterbach sei mit seiner Empfehlung zum zweiten Booster für alle "ziemlich exklusiv unterwegs. 30- oder 40-Jährigen pauschal eine vierte Impfung zu empfehlen, das halte ich für falsch."
Auch im kommenden Herbst sehe er dafür aktuell keine Notwendigkeit, solange es nicht neue und deutlich gefährlichere Varianten gebe, ergänzte Gassen. "Ich werde mir jedenfalls keinen zweiten Booster geben lassen." Selbst bei den gesunden älteren Menschen wäre er mit der Viertimpfung zurückhaltend, insbesondere, wenn sie gerade schon eine Omikron-Infektion überstanden haben. Das Immunsystem sei ein hochkomplexes Organ. "Alle paar Monate unkritisch eine Boosterimpfung, nur, weil so viel Impfstoff bestellt wurde?", fragte Gassen. "Etliche Immunologen warnen davor!"
Auch STIKO-Chef widerspricht Lauterbach
Vor einer Woche hatte sich bereits auch der Chef der Ständigen Impfkommission (STIKO) gegen breite Viertimpfungen auch für jüngere Menschen ausgesprochen - und sich damit gegen die jüngste Empfehlung des Gesundheitsministers gewandt. Er kenne keine Daten, die einen solchen Ratschlag rechtfertigten, sagte Thomas Mertens der "Welt am Sonntag" und fügte hinzu: "Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto 'Viel hilft viel' auszusprechen."
Kritik an der Empfehlung gab es daraufhin auch von der mitregierenden FDP. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte dem Portal "t-online": "Herr Lauterbach tut meiner Meinung nach gut daran, der STIKO bei Impfempfehlungen nicht vorauszugreifen."
RKI registriert 92.009 Corona-Neuinfektionen
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) steigt in Deutschland die Zahl der bekannten Infektionen um 92.009 auf mehr als 30,3 Millionen. Die Sieben-Tage-Inzidenz sinkt von 729,3 auf 709,1. Das RKI meldet weitere 116 Todesfälle im Zusammenhang mit dem Corona-Virus. Die bekannte Gesamtzahl liegt damit bei 143.177.
Allerdings liefern diese Angaben nur ein sehr unvollständiges Bild der Infektionszahlen. Experten gehen seit einiger Zeit von einer hohen Zahl nicht vom RKI erfasster Fälle aus - vor allem weil bei weitem nicht alle Infizierten einen PCR-Test machen lassen. Nur positive PCR-Tests zählen in der Statistik. Zudem können Nachmeldungen oder Übermittlungsprobleme zur Verzerrung einzelner Tageswerte führen.
Vergleiche der Daten sind wegen des Testverhaltens, Nachmeldungen und Übermittlungsproblemen nur eingeschränkt möglich. Generell schwankt die Zahl der registrierten Neuinfektionen und Todesfälle deutlich von Wochentag zu Wochentag, da insbesondere am Wochenende viele Bundesländer nicht ans RKI übermitteln und ihre Fälle im Wochenverlauf nachmelden. Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie 30.331.131 nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2. Die tatsächliche Gesamtzahl dürfte deutlich höher liegen, da viele Infektionen nicht erkannt werden.