Kontakt-Nachverfolgung in der Corona-Krise "Wir sind jetzt wirklich alle gefragt"
Wenn jetzt jeder ein Kontakt-Tagebuch schreiben würde, könnte das die steigenden Infektionszahlen stark ausbremsen, sagt der Epidemiologe Hajo Zeeb. Doch er hat Zweifel, ob diese zusätzliche Maßnahme reicht.
tagesschau.de: Viele Schutzregeln sind ja für den Einzelnen von Maske tragen bis Abstand halten über die Warn-App bereits verkündet - jetzt fordern Experten, für diesen Winter, "Kontakt-Tagebücher" zu schreiben. Welchen Unterschied könnte das jetzt noch machen?
Hajo Zeeb: Das Kontakt-Tagebuch soll helfen, mit einer gewissen und bekannten Schwäche unseres Alltagsgedächtnisses umzugehen. Wenn wir selber eine Infektion haben sollten, kommt ja sofort von Gesundheitsämtern, aber auch Ärzten im betrieblichen Bereich die Frage auf, mit wem wir in den vergangenen 14 Tagen Kontakte hatten. Da hilft so ein Tagebuch, die entscheidende Zeit zu rekonstruieren. Die Corona-Warn-App alleine reicht da nicht, da sie ja nur Kontakte derer anonym einfängt, die selbst die App aktiviert haben.
Prof. Hajo Zeeb ist Epidemiologe und leitet seit Januar 2010 die Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Er arbeitete zuvor unter anderem bei der Weltgesundheitsorganisation WHO im Bereich Public Health und ist Co-Sprecher des Wissenschaftsschwerpunkts Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen.
tagesschau.de: Das heißt, damit könnte jeder den Gesundheitsämtern Arbeit und auch Zeit sparen?
Zeeb: Ja, aber nicht nur Zeit. Denn wir hören von dort, dass viele Menschen in dieser Situation Schwierigkeiten haben, diese relativ lange Spanne von Tagen genau zu erinnern. Da vergessen Leute auch einzelne und vielleicht sehr wichtige Kontakte. Da würde es helfen, sehr schnell sagen zu können, wen man wann getroffen hat, beziehungsweise was so passierte.
"Großes Problem: Erinnerungslücken im Alltagsgedächtnis"
tagesschau.de: Führen Sie persönlich bereits so ein Tagebuch?
Zeeb: Ich bin jemand, der einen sehr genauen Kalender führt und insofern könnte ich genau sagen, was ich wann wo gemacht habe. Für diejenigen, die einen sehr guten Kalender führen - ob elektronisch oder auf Papier, ist das wahrscheinlich schon ausreichend. Für die anderen gibt es Apps, die man sich dazu runterladen kann - oder man legt sich zuhause ein Büchlein hin und notiert sich immer abends Besonderheiten. Natürlich muss man nicht eintragen, dass man heute wie jeden Morgen mit der Ehefrau oder dem Ehemann gefrühstückt hat - das wird man immer erinnern.
"Verrückt wäre, jede Flur-Begegnung festzuhalten"
tagesschau.de: Gibt es Kriterien dafür? Man wird ja nicht jede Aufzugfahrt mit Kollegen festhalten können.
Zeeb: Man wird es wie bei der Corona-App halten müssen: Es geht um Kontakte, wo der Abstand nicht eingehalten wird und die etwas länger gedauert haben. An wem man im Flur vorbeigegangen ist, kann man nicht alles aufschreiben, dann wird es verrückt. Man muss das pragmatisch angehen. Es müssen ja nachverfolgbare Kontakte sein - also mit Menschen, die man namentlich kennt oder zumindest klar zuordnen kann. Anders ist es in einem Restaurant. Wenn ich notiere, wo ich wann essen war, kann sich das Gesundheitsamt bei diesem Restaurant melden - und deren Liste erbitten, die die ja auch führen müssen.
Um Kontakte gut nachvollziehen zu können, mit dem Ziel andere Menschen vor einer Infektion zu warnen, braucht es wohl viel: Die Listen in Restaurants, die Warn-App, aber eben vor allem die Angaben der Infizierten selbst, wenn sie trafen und wo sie waren.
"Gerade noch die Chance, das Infektionsgeschehen einzufangen"
tagesschau.de: Aktuell steigen die Infektionszahlen an, kommt der Kontaktnachverfolgung damit noch mehr Bedeutung zu?
Zeeb: Es ist ein zentrales Werkzeug in der Pandemie. Solange dieses funktioniert, hat man noch Chancen, Menschen individuell zu warnen oder Isolation und Quarantäne zu empfehlen. Dadurch lassen sich Infektionsketten wirksam unterbrechen. Es ist aber auch klar, dass ab einer bestimmten Häufungsdichte von Infektionen das nicht mehr so funktionieren wird. Dann wird man sich Cluster-Schwerpunkte heraussuchen, um sie nachzuverfolgen. Das ist aber vermutlich nicht so effektiv. Dann hat man an einer Stelle schon aufgeben müssen, nämlich bei der individuellen Kontaktnachverfolgung.
Solange man über so ein Tagebuch und die Corona-Warn-App noch agieren kann, gibt es Chancen, das Infektionsgeschehen wieder einzufangen.
tagesschau.de: Das heißt, jeder einzelne kann mit Kalenderführung oder Kontakt-Tagebuch wirklich etwas fürs große Ganze bewirken?
Zeeb: Tatsächlich geht es um den sogenannten R-Wert, wenn eine Person mehr als eine weitere ansteckt: Dann liegt er über dem Wert 1. Das haben wir gerade und das bedeutet nun laufend steigende Ansteckungszahlen. Da sind jetzt wirklich alle gefragt mitzuhelfen.
Möglicherweise wird es neben den individuellen Maßnahmen aber auch wieder zu weiteren Einschränkungen des öffentlichen Lebens kommen. Wahrscheinlich wird es ein "Gesamtwerk" sein, um wieder zu niedrigeren Zahlen zu kommen. Es braucht für die vorhandenen und neuen Maßnahmen viel Aufmerksamkeit in der Gesellschaft.
tagesschau.de: Können da weitere politische Appelle etwas bewirken, etwa seitens der Kanzlerin?
Zeeb: Die hat sich mehrfach sehr deutlich an alle gewendet. Das ist ein medienwirksames Element, das Politik hat. Aber es muss nicht unbedingt die Kanzlerin sein. Es sollten alle Verantwortlichen vor Ort, wo die Menschen leben, ihre Mitbürger aufrufen. Man muss in alle Bereiche reinkommen - in die Kirchen, auch dort, wo die Jugendlichen und andere schwierig zu erreichende Gruppen sind. Da müssen wir Wege finden, deutlich zu machen, dass es nur gemeinsam zu schaffen ist.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de