Menschen stehen in einem Jobcenter der Bundesagentur für Arbeit in einer Schlange.
Analyse

Rechenbeispiele auf dem Prüfstand Bürgergeld oder Lohn - was bringt mehr?

Stand: 07.11.2022 19:35 Uhr

Arbeit lohne sich nicht mehr, argumentiert die Union gegen das Bürgergeld - und liefert Rechenbeispiele, nach denen Erwerbstätige entsprechend schlechtergestellt würden. Doch stimmt das? Ein Faktencheck.

Eine Analyse von Kai Küstner, ARD Berlin

Eins lässt sich nur schwer bestreiten: Der Ton im Bürgergeld-Streit ist rau geworden. SPD-Chef Lars Klingbeil wirft der Union "Lügen" im Stil von Donald Trump vor. CDU/CSU bleiben bei ihrer Ablehnung des Bürgergelds, das sie im Bundesrat theoretisch verhindern könnten. Und sie rechnen vor, dass Arbeitslose vielfach gleich oder sogar besser gestellt würden als Erwerbstätige.

Stimmt der Vorwurf, dass sich Arbeiten mit dem neuen Bürgergeld finanziell nicht mehr auszahlt?

Egal, ob jetzt beim Hartz-IV-System oder künftig beim geplanten Bürgergeld: Wer arbeitet, dem steht in jedem Fall ein höheres Einkommen zur Verfügung als jemandem, der das nicht tut. Heißt also: Der sogenannte "Lohnabstand", von dem nun so häufig der Rede ist, bleibt grundsätzlich erhalten. Dafür sorgen die sogenannten "Hinzuverdienstregelungen", die jetzt genauso wie in Zukunft gelten sollen. Selbst Bürgergeld-Kritiker leugnen nicht, dass diese "Abstandsregeln" in Kraft bleiben sollen.

Womit aber die knifflige Frage, ob sich Arbeiten in der Wahrnehmung eines jeden Geringverdieners wirklich lohnt, noch nicht endgültig beantwortet ist: Denn für ein Plus auf dem Konto muss ja auch ein Plus an Aufwand geleistet werden. Nur: Dieses Dilemma besteht schon lange. Dies dem neuen Bürgergeld in die Schuhe schieben zu wollen, fällt aus Expertensicht schwer. Dass sich dieses nennenswert "auf das Arbeitsangebot im Niedrigeinkommensbereich" auswirkt, davon geht etwa die Wissenschaftlerin Kerstin Bruckmeier vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nicht aus.

Wie kommt die Union dann auf ihre Berechnungen, Arbeitslose stünden bald besser da als Erwerbstätige?

Egal, ob alleinstehend oder verheiratet und mit Kindern - in so mancher Unionsrechnung haben Geringverdiener am Ende eines Bürgergeld-Monats sogar hunderte Euro weniger auf dem Konto als Arbeitslose. Zu diesem erstaunlichen Ergebnis könnten CDU/CSU nur kommen, weil sie etwas verschweigen, erläuterten mehrere Expertinnen und Experten dem ARD-Hauptstadtstudio.

Unter anderem fließe in die Gleichung oft nicht ein, dass auch Mindestlohnempfänger Anspruch auf Wohngeld, Kinderzuschläge und andere Leistungen hätten - die aber in der Rechnung gar nicht auftauchten, um nur ein Beispiel zu nennen. So manche in den sozialen Medien für Furore sorgende Grafik stützte sich auf Zahlen des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel, das seine "Erstversion" jedoch unter Hinweis auf "Fehlinterpretationen" wieder von der Seite nahm und eine Überarbeitung ankündigte.

Fazit: Bei vielen der kursierenden Rechenexempel geht also Vereinfachung auf Kosten der Genauigkeit. Im Einzelfall, wenn also der Staat im teuren München dem alleinstehenden Arbeitslosen die Wohnung komplett zahlt, könne dessen Unterstützung nahe den Bezügen eines 12-Euro-Minijobbers liegen, sagen Experten. Das sei aber eher der Ausnahmefall. Völlig irreführend sind Rechenbeispiele dann, wenn der Eindruck entsteht, das Bürgergeld sorge generell dafür, dass Erwerbstätige künftig schlechter dastünden als Arbeitslose.

Heißt das, die Kritik am Bürgergeld ist gänzlich unberechtigt?

Sämtliche Vorwürfe lässig an sich abtropfen lassen kann das Bürgergeld sicher nicht: Wenn die Grundsicherung für Arbeitslose um rund 50 Euro erhöht werden soll, dann kann das den Anreiz zum Arbeiten durchaus verringern. Vom "Sozialstaatsdilemma" spricht hier die Wissenschaft. Doch dass diese Steigerung in dieser Krisensituation und angesichts der hohen Inflation für die Wahrung des sozialen Friedens notwendig ist, sieht man in der Union ja genauso. Dass deshalb Geringverdiener aufhören zu arbeiten, ist laut Experten zunächst auch nicht zu erwarten.

Was aber nicht heißt, dass damit die anderen Kritikpunkte vom Tisch gewischt wären, als da sind: Die Entschärfung von Sanktionen im Zuge der Bürgergeldeinführung oder auch die laut Bundesrechnungshof mit 60.000 Euro sehr hoch liegende Grenze des Vermögens, über das ein Bürgergeldbezieher verfügen darf. Da sie mit ihrer Kritik, hier werde zu viel gefördert und zu wenig gefordert, nicht allein dasteht, wird die Union in dem Punkt sicher nicht schnell klein beigeben.

Kai Küstner, Kai Küstner, ARD Berlin, 07.11.2022 19:17 Uhr