Irina Borogan  und Andrei Soldatov (Archivbild 2015)

Russische Dissidenten Der lange Schatten des Kreml

Stand: 13.12.2023 16:56 Uhr

Russische Dissidenten hoffen in Europa auf Schutz. Doch auch in Deutschland können sie unter Druck geraten, wie zwei Investigativjournalisten, die über die russischen Geheimdienste berichten.

Raum B 335 im Landgericht Hamburg. Links vor dem Vorsitzenden Richter Florian Schwill sitzt der russische Geschäftsmann Alexey Kozlov mit einer Dolmetscherin und seinem Anwalt. Kozlov hatte eine einstweilige Verfügung erwirkt. Sie verbietet es der Hachette Book Group, ein Buch über die Tätigkeit russischer Geheimdienstagenten weiter als E-Book in Deutschland zu verbreiten. Der US-Verlag widerspricht. Dessen Anwalt Jan Hegemann sitzt rechts vor dem Richtergremium.

Die Autoren des Buchs "Compatriots", die russischen Investigativjournalisten Irina Borogan und Andrei Soldatov, sind nicht gekommen. Sie leben unter Polizeischutz im Exil, wie Hegemann Richter Schwill und seinen beiden Beisitzerinnen erklären wird. Die Journalisten kennen Kozlov gut, haben ihn mehrere Stunden interviewt, um ihn und Familienangehörige zu Protagonisten in ihrem Buch zu machen. Ein Ur-Großvater von Kozlov ist bekannt dafür, den Mord an Stalin-Gegner Leo Trotzki im Jahr 1940 organisiert zu haben.

Kozlov solle ein positiver Charackter sein, "jemand, der als eher zwielichtiger Geschäftsmann mit Verbindungen zu den Geheimdiensten begann und aufgrund seiner persönlichen Probleme auf die Seite des Guten wechselte", beschreibt Soldatov die Rolle des Geschäftsmannes im Buch.

Doch Kozlov behauptet, dass "fast alles verzerrt" dargestellt sei und er verleumdet werde. Es sei unwahr, dass er seine Karriere im Finanzsektor Beziehungen zum Geheimdienst verdanke - deshalb sein Antrag auf einstweilige Verfügung.

"Berge von Nebensächlichkeiten"

Bei dem Gerichtstermin am 8. Dezember geht es nur um den Zeitpunkt, zu dem Kozlov den Antrag vor Gericht gestellt hat. Schließlich hat das Gericht die Verfügung am 10. Oktober wegen Dringlichkeit verhängt. Das war allerdings fast genau vier Jahre nach Erscheinen des Buches am 8. Oktober 2019.

Kozlov muss also plausibel erklären können, warum er erst jetzt juristisch gegen die Veröffentlichung vorgeht. Er selbst gibt an, einer der ersten Käufer des Buches gewesen zu sein und 2019 schon die ersten 100 Seiten gelesen zu haben, in denen es auch um seine Ur-Großväter geht. Aus Verärgerung und Langeweile über den Inhalt habe er es jedoch weggelegt und verborgt. Die ihn betreffenden Seiten habe er dann erst während eines Strandurlaubs in New York am 18. August gelesen und dann sogleich einen Anwalt kontaktiert.

Anwalt Hegemann entgegnet, Kozlov habe "Berge von Nebensächlichkeiten" präsentiert, unter denen sich eine unglaubwürdige Darstellung verberge. Er kommt darauf zu sprechen, dass das juristische Vorgehen Kozlovs einige SLAPP-Elemente enthalte.

SLAPP bedeutet "Strategic Lawsuits against Public Participation" (Strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung) - ein juristisches Vorgehen mit dem Ziel, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Hegemann nennt als Beispiel den Streitwert von 100.000 Euro, den er als "aberwitzig" bezeichnet. In New York, am Sitz des Verlages, sei ein solches Verfahren gar nicht denkbar.

Ermittlungen gegen die Autoren

Und eben der Zeitpunkt des Verfahrens: Irina Borogan und Andrei Soldatov sind seit Jahren als seriöse Investigativjournalisten bekannt. Das beanstandete ist ihr drittes Buch über die Arbeit der russischen Geheimdienste. Lange konnten sie unbehelligt arbeiten.

Doch 2020 wurde ihnen die Lizenz für ihre Nachrichtenwebsite agentura.ru in Russland entzogen, da der Gründer der Website verstorben sei - obwohl beide quicklebendig waren. Sie verstanden dies als Zeichen und verließen wie viele andere das Land.

Doch die russischen Behörden verfolgen sie weiter. Ein Grund ist offensichtlich, dass sie seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 über Unruhe und Säuberungen innerhalb des Inlandsgeheimdienstes FSB berichten.

Auf Grundlage des Mediengesetzes von 2022, das Kritik an der "militärischen Sonderoperation" in der Ukraine verbietet, wurde Soldatov wegen Verunglimpfung der Streitkräfte angeklagt, seine Bankkonten in Russland eingefroren. Die Ermittlungen erlauben es den russischen Diensten, Soldatov zu überwachen, wie er tagesschau.de schrieb. Am 3. November 2023 wurde er zudem zum "ausländischen Agenten" erklärt.

Konten eingefroren

Auch die Bank Austria in Österreich löste kürzlich das Konto der Autoren auf. Auf die Frage nach den Gründen gab das Finanzinstitut der österreichischen Zeitung "Standard" mit Verweis auf das Bankgeheimnis keine Antwort.

Vor wenigen Tagen kündigte auch der deutsche Internet-Anbieter Hetzner den Vertrag für agentura.ru. Das Unternehmen nannte Soldatov die "angespannte geopolitische Lage mit Russland" als Begründung.

Neben agentura.ru sei auch allen anderen russischen Kunden mitgeteilt worden, dass sich das Unternehmen gezwungen sehe, "allen Kunden mit russischer Postanschrift am Ende der darauffolgenden Woche eine Kündigung zuzustellen", teilte Andreas Fischer, Head of Marketing bei Hetzner, tagesschau.de mit. Dies geschehe wegen der politischen Sanktionen, an die sich das Unternehmen halten müsse.

Die einstweilige Verfügung gegen das Buch war bereits geeignet, einen Reputationsverlust für Borogan und Soldatov herbeizuführen: Kozlov veröffentlichte am 17. Oktober auf Facebook ein Foto des Gerichtsbeschlusses mit Vorwürfen gegen die beiden. Für den Verlag bedeute das Verfahren einen erheblichen finanziellen Aufwand, sagt Hegemann bei der Gerichtsverhandlung.

Gericht stoppt Kozlov

Schließlich verweist der Anwalt darauf, dass sich auf den ersten Seiten des beanstandeten Buchs ähnlich wie bei einem Film ein "Cast of Charackters" findet, in dem Kozlov und dessen damalige Frau als Protagonisten verzeichnet sind. Die Richter können sich selbst davon überzeugen. Kozlov hat sein Exemplar dabei. Ihm wird offenbar in dem Moment klar, dass seine Argumentation so nicht aufrecht zu erhalten ist. Denn warum hätte er dann nicht schon 2019 jene Stellen suchen sollen, bei denen er als Protagonist auftaucht?

Seine Dolmetscherin übersetzt: Wenn sich Borogan und Soldatov entschuldigten, wolle er seinen Antrag zurückziehen. Sie lebten ja schon unter Polizeischutz, er wolle ihnen das Leben nicht weiter erschweren. Er selbst habe vier Jahre in Russland im Gefängnis gesessen.

Doch Richter Schwill stoppt Kozlov an der Stelle ohne weitere Begründung und sagt, die Kammer werde sich nun beraten. Später teilt das Gericht mit, die einstweilige Verfügung werde aufrecht erhalten. Die Begründung werde in den kommenden Tagen bekannt gegeben. Hegemann kann dann im Namen des Verlages vor dem Oberlandesgericht Hamburg Einspruch erheben.

Sollte Hegemann auch vor dem Oberlandesgericht keinen Erfolg haben, ist es an Kozlov zu entscheiden, ob er in das Hauptsacheverfahren einsteigen will. Dann müssten Kläger und Beklagter dem Gericht Belege und Zeugen präsentieren. Kozlov hätte dann einen Prozesskostenvorschuss zu zahlen, der sich am angegebenen Streitwert von 100.000 Euro orientiert.

Das Hamburger Gericht sei in Sachen Urheberrecht, Reputation und Medien als das maßgebliche und professionellste bekannt, hatte Kozlov auf Facebook zur Begründung geschrieben, warum er sich mit seinem Anwalt an das Landgericht der Hansestadt gewendet hatte. Nach dem Richterbeschluss am 8. Dezember veröffentlichte er einen neuen Video-Post mit der Überschrift: Hamburg ist eine der besten Städte Europas.

Anmerkung der Redaktion (14. Dezember 2023): Nach Veröffentlichung des Artikels schickte das Unternehmen Hetzner eine Erläuterung, warum den Betreibern von agentura.ru gekündigt worden sei.