Kohle statt Gas Was die Energiekrise für das Klima bedeutet
Den Atomausstieg abschließen und den Kohleausstieg vorantreiben - für die Ampelkoalition eigentlich Kernziele. Aber der Krieg in der Ukraine hat die Pläne für die Energiepolitik ins Wanken gebracht.
Die Ampelkoalition hatte einen Plan für die Energiepolitik: Atomausstieg dieses Jahr vollenden, Kohleausstieg möglichst bis 2030 erreichen, Erneuerbare Energien schnell ausbauen - und die Versorgungslücken mit Gaskraftwerken schließen. So war es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP vorgesehen. Erdgas sollte die fossile Brücke schlagen in die klimaneutrale Energiewelt der 2030er- oder 40er-Jahre. Sogar der umfangreiche Bau zusätzlicher Gaskraftwerke war geplant.
Aber wegen Russlands Krieg in der Ukraine heißt es nun Kohle statt Gas. Der grüne Klimaschutzminister Robert Habeck gesteht ein, dass dies klima- und energiepolitisch ein Rückschritt ist. "Man soll sich da auch nicht einreden, dass das irgendetwas Tolles ist. Aber es ist geboten, um die Gasverbräuche zu reduzieren."
"Befristet in den Markt zurück"
Das Problem: Insbesondere Braunkohle stößt bei der Stromerzeugung deutlich mehr CO2 aus als Erdgas. Erdgas wird nun jedoch knapp und deshalb soll es für die Industrie und die Wärmeerzeugung reserviert werden - aber so weit wie möglich nicht mehr für die Stromerzeugung. Stattdessen hat die Bundesregierung die Grundlage dafür gelegt, dass zur Abschaltung vorgesehene Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt und wieder hochgefahren werden.
Im Bereich der Steinkohle gibt es bereits eine konkrete Liste an Kraftwerken, die "befristet in den Markt zurückkehren dürfen". Das sind zehn Steinkohlekraftwerke mit einer Leistung von 4,3 Gigawatt. Die Anlagen waren bereits in der Reserve. Dazu kommen elf Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke, deren eigentlich vorgesehene Stilllegung verschoben wird: Kapazität 2,6 Gigawatt. Und weitere Braunkohle-Kraftwerke aus der sogenannten Versorgungsreserve sollen gegebenenfalls aktiviert werden, falls es im Herbst richtig eng wird mit der Stromversorgung.
Höherer CO2-Ausstoß erwartet
Wie viele Meiler am Ende tatsächlich wieder ans Netz gehen, ist im Augenblick nicht vorherzusagen und hängt auch davon ab, ob die Betreiber die Kraftwerke überhaupt reaktivieren wollen. Unklar ist vor allem auch, wie viele der Braunkohlekraftwerke aus der Versorgungsreserve tatsächlich wieder hochgefahren werden sollen.
Mirko Schlossarczyk von der Unternehmensberatung Enervis Energy Advisors in Berlin rechnet mit insgesamt rund zehn Gigawatt an Kraftwerkskapazität, die theoretisch bereitstünden. Zum Vergleich: Derzeit haben die hiesigen Kohlekraftwerke knapp 40 Gigawatt an Leistung.
Die Reaktivierung hätte auch Folgen für den CO2-Ausstoß, so Schlossarczyk: "Nach unseren Berechnungen würden 2023 im Stromsektor in einer Bandbreite von 30 bis 40 Millionen Tonnen mehr an CO2 ausgestoßen. Das sind über den Daumen rund 20 Prozent mehr als im vergangenen Jahr."
Eine Herzensangelegenheit für die Grünen
Das ließe sich zumindest teilweise verhindern, argumentieren die Befürworter einer längeren Nutzung der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke. Denn die würden praktisch klimaneutral Strom produzieren, betonen Union und AfD. Und innerhalb der Koalition drängt die FDP inzwischen unüberhörbar darauf, die Option Atom zumindest ernsthaft zu prüfen. "Mich befriedigt jedenfalls nicht", so FDP-Parteichef und Finanzminister Christian Lindner, "dass wir die klimaschädliche Kohle verlängern, die Möglichkeiten der Kernenergie aber nicht einmal in Erwägung ziehen. Und genau das würde ich gerne ändern. Mindestens in Erwägung ziehen muss man das - unideologisch."
Die drei verbliebenen Atommeiler Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 haben eine installierte Leitung von 4,3 Gigawatt und stehen für rund sechs Prozent der Stromproduktion in Deutschland. Mit der geplanten Stilllegung zum Jahreswechsel würde diese Kapazität wegfallen und müsste anderweitig ersetzt werden - in einer Lage mit sowieso schon großer Unsicherheit für die Energieversorgung.
Auf der anderen Seite hat die Kernkraft die Gesellschaft über Jahrzehnte aufgewühlt und gespalten wie kaum ein anderes Thema. Der endgültige Ausstieg schien bis vor Kurzem unumstößlich, ist eine Herzensangelegenheit für die Grünen und weite Teile der SPD.
Der Stresstest soll Klärung bringen
Die Atomfrage klären will die Bundesregierung nun mit einem weiterem Stresstest für den Strommarkt im Auftrag des grün geführten Wirtschaftsministeriums. Dabei untersuchen die vier großen Betreiberfirmen der Stromnetze anhand von Worst-Case-Szenarien, ob im Winter Versorgungsengpässe beim Strom drohen könnten - auch regional. Insbesondere Bayern gilt als möglicher Problemfall. Und dort ist noch das AKW Isar 2 in Betrieb, das laut einem Gutachten des TÜV Süd relativ problemlos seine vorhandenen Brennstäbe auch über den Jahreswechsel hinaus zur Stromproduktion nutzen könnte. Das wäre dann ein sogenannter Streckbetrieb.
Bemerkenswert ist, dass sich die inzwischen sogar die bayerischen Grünen einen solchen Streckbetrieb "im Extremfall" vorstellen können. Entscheidend sei es, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, heißt es aus der Partei- und Fraktionsführung in München.
Und auch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt wollte am Sonntag bei "Anne Will" einen Streckbetrieb nicht mehr kategorisch ausschließen: "Das heißt, wenn es dazu kommt, dass wir eine wirkliche Notsituation haben, dass Krankenhäuser nicht mehr arbeiten können, wenn eine solche Notsituation eintritt, dann müssen wir darüber reden, was mit den Brennstäben ist."
Nun darf man gespannt auf die Ergebnisse des Stresstests für die Stromnetze sein, die wohl erst in einigen Wochen vorliegen werden. Sollte der Stresstest aber klar ergeben, dass voraussichtlich keine Blackouts drohen, dürfte das Thema Weiternutzung der Kernkraftwerke für die Bundesregierung vom Tisch sein.