Bericht zu Giftgas-Einsatz in Syrien Russland spricht von Märchen
Nach dem Giftgas-Einsatz in Chan Scheichun geht der Streit darüber weiter, wer dafür verantwortlich ist. Human Rights Watch präsentierte Indizien, die den Einsatz einer sowjetischen Bombe belegen sollen. Russland dementiert.
Von Wolfgang Wichmann, tagesschau.de
Einen Monat ist der Angriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun nun her. Durch den Einsatz eines chemischen Kampfstoffes kamen bei der Attacke am 4. April 2017 mindestens 86 Menschen ums Leben. Die US-Regierung sieht die syrische Regierung von Bashar al-Assad hinter der Tat. Präsident Donald Trump veranlasste nur Tage nach dem Vorfall in Chan Scheichun einen militärischen Vergeltungsschlag. Von zwei Kriegsschiffen im Mittelmeer wurden rund 60 Tomahawk-Marschflugkörper auf einen Stützpunkt der syrischen Luftwaffe gefeuert, von dem aus der Angriff auf Chan Scheichun gestartet worden sein soll.
Nach einer Prüfung von biologischen Proben von Verwundeten und Getöteten teilte die Internationale Organisation für das Verbot von Chemiewaffen mit, der Einsatz von Giftgas sei "unbestreitbar". Es sei Sarin oder eine ähnliche Substanz eingesetzt worden. Zu der Frage, wer für den Angriff verantwortlich ist, äußerte sich die Organisation aber nicht. Eine Untersuchung vor Ort durch die sogenannte Fact-Finding-Mission der OPCW fand bislang offenbar nicht statt. Zuletzt hieß es: Ein Team stehe für Untersuchungen vor Ort bereit, sollte es die Sicherheitslage erlauben.
Human Rights Watch beschreibt mehrere Angriffe
Mit dem Titel "Tot durch Chemikalien" veröffentlichte Human Rights Watch am Montag einen Bericht, der die syrische Regierung für den Angriff auf Chan Scheichun verantwortlich macht. Der Bericht beschreibt den gezielten und wiederholten Einsatz von Chemiewaffen durch das syrische Regime und umfasst als pdf-Dokument 63 Seiten. Eigenen Angaben zufolge basiert der Text auf Interviews mit 60 Personen, die unmittelbar von Kampfeinsätzen mit chemischen Waffen in Syrien und deren Folgen betroffen waren. Zudem seien Dutzende Fotos und Videos von Angriffen und Opfern dieser Einsätze ausgewertet worden, die entweder online verbreitet wurden oder durch Bewohner vor Ort zugängig gemacht worden seien. Eine Untersuchung vor Ort durch die Organisation fand den Angaben zufolge nicht statt.
Der Angriff auf Chan Scheichun wird in dem Bericht von Human Rights Watch auf elf Seiten behandelt. Er findet sich in einem Kapitel über den Einsatz von Chemiewaffen wieder, bei denen der Kampstoff durch Militärjets abgeworfen wurde. Insgesamt vier Angriffe dieser Art mit chemischen Kampfstoffen hat es dem Bericht zufolge seit dem 12. Dezember 2016 in Syrien gegeben. Dabei starben den Angaben zufolge 159 Menschen. Hunderte wurden verletzt.
Augenzeuge spricht von "gelblichem Rauch"
Im Zusammenhang mit dem Angriff auf Chan Scheichun sprach Human Rights Watch dem Bericht zufolge mit 32 Personen - acht davon in einem persönlichen Gespräch in der Türkei. Einem namentlich genannten Augenzeugen zufolge wurde durch ein Militärflugzeug eine Bombe am frühen Morgen des 4. April auf den Ort Chan Scheichun abgeworfen. Die Bombe habe den Bereich vor einer Bäckerei getroffen, wird der Mann zitiert. Eine Explosion habe er nicht gehört, so die Aussage des Mannes den Human Rights Watch den Angaben zufolge telefonisch kontaktiert hatte. Dafür habe er nach dem Aufprall gelblichen Rauch gesehen, der durch den Wind verteilt wurde. Weitere namentlich genannte Augenzeugen berichteten von ähnlichen Eindrücken an diesem Morgen.
Chan Scheichun zwei Mal überflogen
Bezugnehmend auf Berichte von Augenzeugen, der Syrischen Zivilverteidigung, eines Wachpostens und Informationen des US-Militärs geht Human Rights Watch davon aus, dass Chan Scheichun an diesem Morgen von einem Kampfflugzeug zweimal angeflogen wurde. Bei dem ersten Überflug wurde Munition mit einem chemischen Kampfstoff abgeworfen, bei einem zweiten Überflug drei oder vier konventionelle Sprengkörper. Viele Einwohner seien erst durch die deutlich lauteren Explosionen des zweiten Angriffs wach und auf den Angriff aufmerksam geworden. Im Folgenden präsentiert der Bericht detaillierte Augenzeugenberichte von betroffenen Einwohnern und Ersthelfern der Syrischen Zivilverteidigung.
Indizienkette mit Einschränkung
Aus den geführten Interviews und den international verfügbaren Informationen zu dem Angriff auf Chan Scheichun, unter anderem von der Recherche-Organisation Bellingcat, skizziert Human Rights Watch Details zum Ort des Einschlags der ersten Bombe und zu deren technischer Beschaffenheit. Nach der Analyse verfügbarer Fotos und Aufnahmen vom Einschlagsort der ersten Bombe kommt der Bericht zu dem Ergebnis, dass eine in der Sowjetunion produzierte Bombe des Typs KhAB-250 eingesetzt worden sei. Einschränkend heißt es, Bomben dieses Typs fänden sich nicht in öffentlich zugängigen Listen über Waffenbestände des syrischen Militärs. Allerdings seien diese Listen oft auch nicht vollständig.
Die für diese Waffe typischen grünen Streifen seien auf Bildern von vor Ort wiederzufinden. Zudem wird auf einen runden Gegenstand verwiesen, ähnlich dem einer Abdeckkappe für den Einfüllstutzen am Korpus einer KhAB-Bombe. Der Krater, verursacht durch die erste Bombe, wurde dem Bericht zufolge von einer Spezialfirma anhand der verfügbaren Bilddokumente vermessen. Im Ergebnis heißt es einschränkend: Es sei nicht klar zu sagen, ob die Größe des Kraters mit dem Einsatz einer Bombe des genannten Typs schlüssig übereinstimmt. Allerdings sei die verhältnismäßig geringe Zerstörung im Umfeld der ersten Bombe übereinstimmend mit dem Einsatz von schwacher, nicht splitternder Munition wie einer chemischen Bombe.
"Märchenschreiber" von Human Rights Watch
Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte am Dienstag im sozialen Netzwerk Facebook eine Erklärung, die die Vorwürfe von Human Rights Watch scharf zurückweist. Bislang hätten keine internationalen Experten westlicher Länder oder der OPCW den Tatort besucht. Allerdings hätten Aufständische den Krater auf Befehl eines Unbekannten inzwischen mit Zement wieder aufgefüllt.
Deswegen sei die nun vorgestellte "pseudo-sensationelle Untersuchung" des Kraters durch sogenannte "Experten" der Organisation Human Rights Watch mit dem Fund von Munitionsteilen einer KhAB-250-Bombe nur wenig überraschend. Zu den vorgelegten Indizien der "Märchenschreiber" und Experten von Human Rights Watch bezüglich des eingesetzten Bombentyps heißt es konkret:
- Die sowjetische KhAB-250-Bombe sei nie exportiert worden. Diese Bomben seien in den 1960er-Jahren zerstört worden.
- Die KhAB-250-Bombe verfüge zeitens nicht über Einfüllstutzen mit Abdeckkappen wie von Human Rights Watch behauptet. Die Bomben seien vielmehr durch ein besonderes, seitlich angebrachtes Loch befüllt worden.
- Drittens seien KhAB-250-Bomben nicht für den Einsatz von Sarin ausgelegt gewesen und auch nicht mit Sarin befüllt worden.
- Am Wichtigsten aber, so heißt es in der Erklärung: Die KhAB-250-Bombe sei so konstruiert gewesen, dass sie in einer Höhe von 30 bis 70 Meter über dem Erdboden explodiert. Deshalb hinterließe der Einsatz dieser Bombe keinen Krater.
Nur der Besuch einer Spezialmission von Experten vor Ort werde die wahren Vorgänge am 4. April in Chan Scheichun feststellen können. Je mehr westliche Länder dies verhinderten, so heißt es abschließend, umso mehr "Märchen" und "Märchenschreiber" würden erscheinen.
Keine konkrete Kritik an Augenzeugenberichten
Die von Human Rights Watch für ihren Bericht gesammelten Augenzeugenberichte werden vom russischen Verteidigungsministerium nicht konkret angesprochen. Doch vor allem bezüglich der beschriebenen Bombe stehen die Schlussfolgerungen von Human Rights Watch und die Aussagen des russischen Verteidigungsministeriums widersprüchlich gegeneinander. Eine unabhängige Überprüfung ist schwierig. Trotzdem sprechen einzelne Medien wie Sputnik News bereits von Falschmeldungen der Menschenrechtsorganisation.
Einig sind sich beide Seiten lediglich darin, dass am 4. April in Chan Scheichun viele Menschen durch Giftgas ums Leben kamen. Russland erklärte stets, der Kampfstoff sei bei der Bombardierung eines Lagers von Rebellen freigesetzt worden. Human Rights Watch liegt dagegen mit seinem Bericht über einen Luftangriff durch die syrische Luftwaffe auf einer Linie mit den Annahmen westlicher Länder wie den USA und Frankreich.
Reger Austausch im Internet
Zu den widersprüchlichen Angaben über die möglicherweise eingesetzte Bombe gibt es im Internet seit Wochen eine rege Diskussion. So wird beispielsweise auf ein YouTube-Video des russischen Fernsehens aus dem Jahr 2013 verwiesen. Darin wird die Zerstörung von Chemiewaffen aus Sowjetzeiten dokumentiert. Die Bombe weist für einige Nutzer Ähnlichkeiten zu den Fragmenten auf, die auch auf Bildern von Chan Scheichun zu sehen sind. In dem Video ist eine Verschlusskappe für den Einfüllstützen erkennbar, wie sie auch in dem Bericht von Human Rights Watch beschrieben wurde (bei Minute 1:23).
Eliot Higgins von Bellingcat veröffentlichte die bekannten Fakten zu dem signifikanten Bauteil im Kurznachrichtendienst Twitter und widersprach damit auch einem Bericht des MIT-Professors Theodore Postol von Mitte April. Postol hatte dabei den Einsatz einer Sarin-Bombe durch das syrische Militär in Abrede gestellt. Den Informationen Higgins zufolge ist die Größe der gefundenen Verschlusskappe nicht mit dem von Postol veröffentlichten Bericht vereinbar. "Bei der eingesetzten Waffe kann es sich auf keinen Fall um eine 122 Millimeter Kaliber-Geschoss gehandelt haben, wie Postol behauptet."