Gerüchte über Schweden Ein Land außer Kontrolle?
Berichte im Netz zur Sicherheitslage in Schweden klingen brisant: Die Regierung habe die Kontrolle verloren, heißt es. Der Grund sei eine gescheiterte Flüchtlingspolitik. Vieles davon ist nicht ganz richtig oder schlicht falsch.
Von Christian Stichler und Andrea Rönsberg, NDR, ARD-Studio Stockholm
Es sind Berichte wie der auf der umstrittenen Website "Epoch Times", die im Internet für Aufsehen sorgen: Darin heißt es sinngemäß, in Schweden führe die gescheiterte Integration jetzt zum Zerfall des Rechtsstaats. Der Polizeichef des Landes, Dan Eliasson, wird mit den Worten zitiert: "Die Polizei kann die Einhaltung der Gesetze nicht mehr sicherstellen." Bezugnehmend auf einen UN-Bericht liest man dann, dass "Schweden bis 2030 ein Dritte-Welt-Land" werde. Auch auf Online-Seiten der AfD ist von einem Land außer Kontrolle die Rede.
Was hat der schwedische Polizeichef wirklich gesagt? Der Bericht beruft sich auf eine Pressekonferenz am 21. Juni 2017 - aufgezeichnet unter anderem durch den schwedischen Fernsehsender SVT. Fakt ist: Die Nationale Operative Abteilung (NOA) der schwedischen Polizei veröffentlichte am 21. Juni 2017 einen neuen Bericht über die sozialen Brennpunkte des Landes.
Gebiete mit kriminellen Strukturen
Zentraler Teil dieses Berichts ist eine Auflistung der Gebiete mit besonderen kriminellen Strukturen. Die Polizei teilt diese Gebiete in zwei Kategorien ein: "Utsatta område", wörtlich übersetzt "exponierter Bereich" sind Gebiete, in denen es Gewalt auf der Straße gibt, die auch Unbeteiligte bedrohe, in denen offen mit Drogen gehandelt werde und wo es eine weit verbreitete negative Haltung gegenüber gesellschaftlichen Strukturen gebe. Von diesen Gebieten zähle Schweden mittlerweile 60 - überwiegend Vororte oder Teile von Vororten der großen Städte Stockholm, Göteborg oder Malmö. Im Vorläufer-Bericht der Polizei aus dem Jahr 2015 waren es noch 53 Gebiete.
Innerhalb dieser Gebiete gibt es dann wiederum sogenannte "besonderen Umständen ausgesetzte Gebiete" (särskilt utsatta område). Dort herrschten zum Teil Parallelstrukturen und Extremismus. Menschen aus diesen Gebieten reisen dem Bericht zufolge ins Ausland, um an Gewalthandlungen teilzunehmen - beispielsweise zum IS nach Syrien. An diesen Orten gebe es außerdem eine hohe Konzentration von Kriminalität. Auch die Zahl dieser Gebiete sei gestiegen: von 15 im Jahr 2015 auf nunmehr 23.
Gesetzlosigkeit in Teilen Stockholms?
Richtig ist: Der Polizeibericht bezeichnet die Lage in diesen Gegenden, die ganz überwiegend Vororte größerer Städte sind - wie Rinkeby in Stockholm, Seved in Malmö oder Bergsjön in Göteborg - als besonders angespannt. Die Polizei könne in diesen Gebieten ihre Aufgabe nur schwer oder fast gar nicht erfüllen. Das führe dazu, dass sie ihre Arbeitsweisen und Ausrüstung ständig anpassen müsse.
In der Pressekonferenz wandte sich Polizeichef Eliasson an die Kommunen, sozialen Einrichtungen, aber auch die Mehrheit der Menschen in diesen Regionen und bat um Hilfe: Es müsse hier eine gesamtgesellschaftliche Zusammenarbeit geben, um der Kriminalität Herr zu werden. Die Polizei müsse auch ihre eigenen Ressourcen mehr auf diese Gebiete konzentrieren.
Nach dem Attentat mit einem Bier-LKW in Stockholm ging die Polizei verstärkt auf Streife.
Polizei fordert mehr Rechte und Ressourcen
Dabei stellte der Polizeichef keinen direkten Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik her. Er sagte nicht, dass das "schwedische Modell der Integration" von Flüchtlingen gescheitert sei oder "in Teilen Stockholms Gesetzlosigkeit" herrsche. Die Polizei fordert vielmehr zusätzliche Ressourcen, um Recht und Ordnung wieder dauerhaft herstellen zu können. Darüber hinaus müsse der Gesetzgeber der Polizei in bestimmten Fällen erlauben, verdeckt Videos aufzuzeichnen sowie Telefongespräche mitzuschneiden.
Nach dem Stockholmer Terror-Anschlag vom 7. April mit fünf Toten hatten Politiker aller Parteien der Polizei mehr Geld versprochen. Ob das tatsächlich geschieht, wird erst der im Herbst vorzulegende Haushalts-Entwurf zeigen.
Polizei: Keine "No-Go-Areas" in Schweden
Viele Medien sprechen mittlerweile von "No-Go-Areas" im Land: Der Begriff impliziert, dass auch die Polizei diese Gebiete meide. Diese Schlussfolgerung zieht auch der Artikel der "Epoch Times". Der Polizeichef spricht aber nicht von "No-Go-Areas". Diesen Begriff wies die Polizei in verschiedenen Stellungnahmen im Laufe der vergangenen Monate immer wieder zurück. In die Gegenden, die man als "besonders anfällig" betrachte, gehe die Polizei sogar häufiger, nicht seltener oder gar nicht. Daher, meint die Behörde, sei der Begriff der "No-Go-Area" im Bezug auf Schweden schlicht falsch.
Fakt ist aber auch: Schweden hat ein Problem mit Gewalt in vielen Vororten. Allein in Malmö beispielsweise kamen in diesem Jahr acht Menschen bei Schießereien oder Messerstechereien ums Leben. Zuletzt gab es am 2. Juli drei Verletzte bei einer Schießerei. Eines der Opfer trug eine schusssichere Weste und hat offenbar nur deswegen überlebt.
Zitat aus dem Zusammenhang gerissen
Schweden sei von der Masseneinwanderung überfordert. "Das Land steht vor dem Kollaps." Dieses Zitat der schwedischen Außenministerin zieht die "Epoch Times" als Beleg heran - auch um die gegenwärtige Situation zu beschreiben. Die Äußerung von Margot Wallström aus dem Oktober 2015 fiel kurz nach einem Flüchtlings-Sondergipfel der europäischen Staats-und Regierungschef. Damals sagte Wallström der Zeitung "Dagens Nyheter" in einem langen Interview, dass Schweden nicht jedes Jahr 190.000 Menschen aufnehmen könne. Langfristig werde "unser System dann auseinanderbrechen."
Wallström betonte dabei, sie wisse nicht, wann dieser Punkt erreicht sei. Sie kündigte an, dass Schweden in Verhandlungen mit der EU entschlossener auftreten wolle. Das Interview wurde am 30. Oktober 2015 veröffentlicht - wenige Wochen vor Abschluss des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei.
Flüchtlingspolitik ist Wahlkampfthema
Trotzdem ist die Flüchtlingspolitik ein bedeutendes Thema in Schweden, zumal mit Blick auf die im Herbst 2018 bevorstehende Parlamentswahl. Die rechtsextreme Partei der Schwedendemokraten ist mittlerweile zur zweitgrößten politischen Kraft hinter den Sozialdemokraten herangewachsen und hat auch die ehemalige Regierungspartei des früheren Ministerpräsidenten Fredrik Reinfeldt, die konservative "Moderaterna", hinter sich gelassen.
Schweden bei UN-Index in der Spitzengruppe
In einem weiteren Punkt arbeitet die "Epoch Times" im besten Falle unsauber: Wie das Blatt berichtet, warnten die Vereinten Nationen bereits vor zwei Jahren, dass Schweden bis 2030 ein Dritte-Welt-Land werde. Das ist falsch. Die Aussage bezieht sich auf eine im September 2010 veröffentlichte UN-Forschungsarbeit. Diese hatte untersucht, wie der Entwicklungsindex der Vereinten Nationen anders berechnet werden könnte.
In der Arbeit findet sich eine Projektion, wonach Schweden nach einer Neuberechnung des Indexes im Vergleich zu anderen Ländern abfallen könnte - von Rang 15 auf Rang 45 binnen 20 Jahren. Von "Dritter Welt" ist in dem Text aber keine Rede. Der Arbeit vorangestellt findet sich zudem der Hinweis, dass sie die Forschungs-Ergebnisse der Autorinnen präsentiert und "nicht notwendigerweise" die Meinung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen vertritt. Es handelt sich daher nicht um einen offiziellen Bericht der UN.
Fakt ist: Der aktuelle UN-Bericht über die menschliche Entwicklung sieht Schweden auf Platz 14 des Index. Dieser vergleicht insgesamt 188 Länder anhand von Kriterien wie zum Beispiel Lebenserwartung, Schulbildung und Internetzugang. Schweden gehört zur Gruppe der 51 Länder mit "sehr hoher menschlicher Entwicklung und hat sich seit 1990 von einem bereits hohen Niveau weiter kontinuierlich verbessert. Damit steht das Land nach wie vor in der Spitzengruppe des sogenannten Human-Development-Index.
Mit Mitarbeit von Pia Ströhle.