Medizinprodukte Intransparenz mit System
Wie viele Medizinprodukte gibt es? Was zählt dazu? Wie kommen solche Produkte auf den Markt? Antworten dazu sind schwer zu finden. Die Branche ist extrem intransparent. Recherchen bringen dennoch einige Fakten.
Was sind überhaupt Medizinprodukte?
Wohl fast jeder Mensch hat in seinem Leben Kontakt mit Medizinprodukten. Es fängt bei der Nabelschnur-Schere an, geht über Pflaster, Verbände, Spritzen, Kondome bis hin zu Defibrillatoren, Herzschrittmachern oder künstlichen Gelenken.
Aufgeteilt sind die Produkte in verschiedene Risikoklassen; Pflaster sind beispielsweise in der Klasse I, Herzschrittmacher in der Klasse III (Hoch-Risiko-Produkte). Medizinprodukte werden aufgrund ihrer Wirkweise von Arzneimitteln unterschieden und auch rechtlich anders behandelt.
Wie kommen Medizinprodukte auf den Markt?
Herzschrittmacher, Prothesen oder medizinische Geräte können in der gesamten EU und einigen weiteren Ländern wie der Schweiz, Norwegen und der Türkei eingesetzt werden, sobald sie ein CE-Kennzeichen haben. Dieses stellen sich die Hersteller im Prinzip selbst aus. Sie müssen lediglich bestätigen, dass ihre Ware den rechtlichen Vorschriften entspricht.
Bei Produkten, die als riskant angesehen werden, überprüft zusätzlich eine sogenannte Benannte Stelle wie zum Beispiel der TÜV die Unterlagen des Herstellers und vergibt dann das CE-Kennzeichen. Derzeit gibt es etwa 50 solcher Stellen in Europa. Die Hersteller dürfen sich aussuchen, bei wem sie ihre Produkte überprüfen lassen.
Welche Tests oder Studien sind erforderlich?
Die Hersteller müssen belegen, dass ihr Produkt sicher ist und das tut, was es tun soll. Eigentlich müssen laut Gesetz für Hoch-Risiko-Produkte klinische Studien durchgeführt werden. Doch in Ausnahmefällen gehe es auch ohne. Tatsächlich kommen laut einer internen Schätzung des Bundesgesundheitsministeriums 90 Prozent der hochriskanten Medizinprodukte ohne klinische Daten auf den Markt: über den sogenannten Äquivalenz-Weg. Die Hersteller berufen sich dabei auf bereits vorliegende Produkte.
Auch wenn für wirklich neuartige Implantate oder Geräte klinischen Studien durchgeführt werden, sind diese in der Regel sehr klein - oft mit nicht mehr als einigen Dutzend Patienten - und dauern auch häufig nur einige Monate. In aller Regel gibt es auch keine Vergleichsgruppe. Es wird also nicht geschaut, ob es den Patienten mit dem neuen Produkt besser geht als anderen, die ein Produkt erhalten, das bereits auf dem Markt ist. Bei Arzneimitteln sind wesentlich größere und längere Studien vorgeschrieben.
Ein beschädigtes PIP-Implantat (Archivbild)
Können Unterlagen zu den Zertifikaten eingesehen werden?
Weder die Unternehmen noch die Zertifizierungsstellen veröffentlichen die Dokumente und geben sie in der Regel auch nicht auf Anfrage heraus. Insofern ist es - selbst für öffentliche Einrichtungen wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) - unmöglich zu beurteilen, ob ein neues Produkt wirklich sinnvoll ist beziehungsweise einen Nutzen für die Patienten hat. Der renommierte Oxford-Professor Carl Heneghan sagt, eine klinische Evidenz, also einen Beleg dafür, ob das Produkt eher nutzt oder schadet, habe man häufig erst fünf Jahre, nachdem es auf den Markt gekommen ist.
Das ICIJ will nun Unterlagen leichter zugänglich machen und hat auf seiner Internetseite eine Datenbank mit bereits mehr als 70.000 Dokumenten veröffentlicht.
Wie viele verschiedene Medizinprodukte gibt es?
Eine zentrale Erfassung der Produkte gibt es nicht. Hersteller-Verbände behaupten, es seien rund 500.000 verschiedene Medizinprodukte auf dem europäischen Markt. Die Zahl erscheint jedoch sehr hoch. Die großen Prüfstellen in Europa haben zusammen derzeit knapp 20.000 gültige CE-Zertifikate für Medizinprodukte vergeben. Einige der Zertifikate gelten auch für eine ganze Gruppe von Produkte, allerdings nicht bei den Produkten der hohen Risikoklasse, also etwa bei Prothesen oder Herzschrittmacher. Da hat jedes ein eigenes Zertifikat.
Estland ist eines der wenigen Länder in Europa mit einer öffentlichen Datenbank zu Medizinprodukten. Dort sind insgesamt knapp 13.000 einzelne Produkte verzeichnet. In Australien sind es gut 57.000.
Wie häufig kommt es zu Problemen mit Medizinprodukten?
Auch das weiß niemand. Eigentlich sind die Hersteller sowie Ärzte und Kliniken dazu verpflichtet, alle Probleme zu melden. Aber dies geschieht offenbar längst nicht immer. Die Recherchen von NDR, WDR und SZ deuten auf eine enorme Dunkelziffer hin. Der zuständigen Bundesbehörde wurden 2017 rund 14.000 sogenannte Vorkommnisse mit mehr als 220 Todesfällen gemeldet. Wie viele davon tatsächlich auf das Produkt zurückzuführen sind, ist unklar, da nur in etwa der Hälfte der Fälle das Produkt untersucht wurde.
Das Problem: Immer wieder werden Prothesen oder Geräte schnell entsorgt. Häufig sind offenbar auch Vertreter der Hersteller direkt vor Ort, wenn ein Medizinprodukt herausoperiert wird - und nehmen es direkt aus dem OP-Saal mit. Was dann damit passiert, bleibt oft unklar. Bei Todesfällen kommt hinzu, dass Angehörige einer Obduktion zustimmen müssen. So ist auch zu erklären, warum bei lediglich sechs der 220 Todesfälle ein Fehler in Bezug auf das Produkt festgestellt wurde.
Wie sieht es in andern Ländern aus?
In Großbritannien und Frankreich wurden im vergangenen Jahr zum Beispiel mehr Vorfälle gemeldet als in Deutschland, obwohl in beiden Ländern weniger Menschen leben und die Umsätze mit Medizinprodukten deutlich geringer sind. Am größten ist der Unterschied zu den USA, wo im Gegensatz zu Deutschland Daten zu den Vorkommnissen öffentlich einsehbar sind. Dort liegen die Zahlen wesentlich höher. Das ICIJ hat die Daten ausgewertet. Demnach wurden dort 2017 knapp 875.000 Vorkommnisse mit etwa 9000 Todesfällen und mehr als 290.000 Verletzten gemeldet. Auf 100.000 Einwohner berechnet sind es demnach etwa 275 Vorfälle. In Deutschland waren es im selben Zeitraum 17.
Dabei gibt es sogar viele Hinweise darauf, dass selbst in den USA ein großer Teil der Probleme nicht gemeldet wird. Gerissene Brustimplantate wurden beispielsweise regelwidrig als unbedeutende Ereignisse in Sammelmeldungen versteckt. Teils wurden auch Todesfälle mit Medizinprodukten nicht als solche angegeben. 220 solcher falsch deklarierter Meldungen fanden die Journalisten in den Daten der Gesundheitsbehörde aus den vergangenen fünf Jahren. Die FDA weise schon lange darauf hin, dass das derzeitige System nur eingeschränkt funktioniere, um Sicherheitsrisiken rechtzeitig zu identifizieren, räumt die Behörde ein. Dies sei "eine Herausforderung, die nicht nur in den USA besteht".
Wie groß ist die Branche?
In Europa arbeiten etwa 675.000 Menschen in dem Bereich. Die insgesamt rund 27.000 Firmen verkaufen Produkte für etwa 110 Milliarden Euro pro Jahr.
Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle. Hier werden für Medizinprodukte jedes Jahr etwa 35 Milliarden Euro ausgegeben. Der Branche zufolge sind in Deutschland mehr als 12.000 Unternehmen mit mehr als 200.000 Beschäftigten und einem Umsatz von 30 Milliarden Euro beheimatet. Sie produzieren für die ganze Welt. Etwa zwei Drittel aller hier hergestellten Medizinprodukte werden exportiert. Die Exporte sind in den vergangenen zehn Jahren jährlich um etwa sieben Prozent gestiegen und liegen mittlerweile bei einem Wert von mehr als 100 Milliarden Euro - also etwa knapp halb so hoch wie die der Auto-Industrie.