Mehrheit für Erdogan Was das Wahlergebnis der Deutsch-Türken zeigt
Nach der Präsidentenwahl in der Türkei sorgt das Abstimmungsergebnis der türkischen Wähler in Deutschland für Kritik. Doch ein Blick auf die Gesamtsituation lohnt sich.
Das Wahlergebnis der in Deutschland wahlberechtigten Türkinnen und Türken geriet nach der Präsidentenstichwahl in der Türkei schnell in den Fokus - denn der bisherige Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan holte hierzulande mit 67 Prozent deutlich mehr Stimmen als sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu.
Bilder und Videos von feiernden Erdogan-Anhängern in deutschen Großstädten machten die Runde. Unter anderem Bundesagrarminister Cem Özdemir kritisierte das Wahlverhalten der Türken in Deutschland.
Etwa die Hälfte war nicht wahlberechtigt
Zur Einordnung des Ergebnisses ist es hilfreich, sich die Zahlen genauer anzuschauen. Von den laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge insgesamt etwa 2,9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland waren nur 1,5 Millionen überhaupt wahlberechtigt. Denn viele von ihnen besitzen zwar die deutsche Staatsbürgerschaft, nicht jedoch die türkische - und damit sind sie nicht wahlberechtigt.
Von den 1,5 Millionen Wahlberechtigten hatten sich wiederum nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu knapp die Hälfte an der Stichwahl beteiligt - die Rede ist von 732.000. Davon stimmten 67 Prozent für Erdogan - also etwa knapp 500.000.
Wahlbeteiligung im Ausland anders zu bewerten
Dass die Wahlbeteiligung in Deutschland niedriger war als in der Türkei, hat verschiedene Gründe, sagt Betül Havva Yilmaz-Bergk, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. "Mir haben viele Menschen gesagt, dass sie nicht wählen gehen, weil sie nicht in der Türkei leben. Sie finden es daher unangemessen, das Wahlergebnis zu beeinflussen, ohne genau zu wissen, wie die Situation vor Ort überhaupt ist." Andere wiederum hätten Angst vor Repressionen des türkischen Staats, da sie in der Opposition tätig waren.
Die Wahlbeteiligung im Ausland ist aufgrund verschiedener Hürden generell anders zu bewerten als die im Inland. Denn oftmals ist keine Briefwahl möglich und die Menschen müssen für die Wahl beispielsweise zum Konsulat ihres Herkunftslandes fahren. Daher ist die Wahlbeteiligung allein deshalb oftmals niedriger: Bei der Bundestagswahl 2021 beantragten von den etwa 3,4 Millionen Deutschen im Ausland lediglich 126.500 überhaupt eine Eintragung ins Wahlregister. Wie viele davon tatsächlich gewählt haben, ist nicht bekannt. Auch wie die Auslandsdeutschen gewählt haben, wurde nicht erhoben.
Mehrheit für Kilicdaroglu in Nordamerika
Im westeuropäischen Vergleich stimmten die Türkinnen und Türken in Deutschland recht ähnlich ab wie die in einigen Nachbarländern: In Frankreich erhielt Erdogan 66,57 Prozent der Stimmen, in Österreich 73,88 und in den Niederlanden 70,45 Prozent. In den skandinavischen Ländern Dänemark (60,47 Prozent) und Norwegen (54,23 Prozent) fiel Erdogans Ergebnis etwas schwächer aus. In der Schweiz, in Polen und in Finnland holte Kilicdaroglu die Mehrheit - wie in vielen weiteren Ländern Süd- und Osteuropas.
Auch in Großbritannien, Kanada und den USA kam Kilicdaroglu von der sozialdemokratischen Partei CHP auf deutlich mehr Stimmen als Erdogan von der konservativen Partei AKP. Nach Ansicht von Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung sind die unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse mit den sozialen Schichten zu erklären, die in die jeweiligen Länder emigriert sind. "In Ländern wie Kanada oder den USA, wo vor allem Menschen mit hoher Qualifikation einwandern, sind die Zustimmungswerte für Kilicdaroglu höher."
Denn anders als in Deutschland gelten die Sozialdemokraten in der Türkei nicht als traditionelle Partei der Arbeiter, so Ulusoy. Diese wählten in der Türkei vor allem konservativ, während die Sozialdemokraten eher in den städtischen Eliten und säkularen Milieus beliebt seien. "Diese Milieus sind bei den türkischstämmigen Menschen in Deutschland jedoch unterrepräsentiert", sagt Ulusoy. Denn in Deutschland würden mehr Menschen leben, die etwa aus dem ländlichen Anatolien stammten. Das spiegele sich dann im Wahlergebnis wider: Auch in Anatolien lag Erdogan deutlich vor Kilicdaroglu.
In den vergangenen Jahren sind aber auch vermehrt Oppositionelle nach Deutschland gekommen, sagt Yilmaz-Bergk - spätestens seit den Repressionen der türkischen Regierung nach dem Putschversuch gegen Erdogan im Jahr 2016. Für sie sei es oftmals schwer nachzuvollziehen, dass es in Deutschland Menschen gibt, die Erdogan unterstützen.
Kein positives Interesse an Wahlen?
Laut Ulusoy haben es Erdogan und seine Partei aufgrund der Voraussetzungen leicht, ihre Anhänger auch in Deutschland zu erreichen. Zudem konsumierten diese ohnehin größtenteils staatsnahe Medien, mithilfe derer Erdogan seine Popularität festige. Und auch der Blick der deutschen Bevölkerung auf die Wahlen in der Türkei beeinflusse die Wahlentscheidung, sagt Ulusoy. "Die Menschen bekommen natürlich mit, wie die deutsche Öffentlichkeit über sie, über ihr Wahlverhalten und über ihren Präsidenten denkt. Und dann entsteht eine Art Trotzreaktion."
Denn viele würden die übersteigerte Aufmerksamkeit an den türkischen Wahlen und die Person Erdogan nicht als positives Interesse wahrnehmen. "Diskriminierende Vorurteile zum Beispiel gegenüber türkischen Muslimen werden in ihren Augen einfach auf die Person Erdogans projiziert und dadurch als legitime Kritik getarnt. Wenn jemand sich auf Erdogan einschießt, muss er nicht mehr erklären, dass er womöglich etwas gegen die Türken hat."
"Müssen auf Menschen zugehen"
Yilmaz-Bergk hält es auch mit Blick auf die deutsche Politik und Gesellschaft für wichtig, die Ursachen für die Wahlentscheidung pro Erdogan zu untersuchen. "Religion und türkische Identität waren wichtige Faktoren, auf die Erdogan gesetzt hat. Die Frage ist, warum das offenbar für viele in Deutschland eine so wichtige Rolle gespielt hat." Erdogan habe es geschafft, dass sich viele Türken in Deutschland von ihm unterstützt fühlten.
Anstatt sich über das Wahlergebnis der Türken in Deutschland zu echauffieren, fordert Ulusoy, auf die Menschen zuzugehen. "Wenn wir die Leute gewinnen wollen, müssen wir sie positiv emotional ansprechen. Die Verurteilung führt nicht dazu, dass Menschen sich öffnen, sondern sie kapseln sich eher ab."
Die Migrationsgeschichte sei voller Verurteilungen, sagt Ulusoy. "Nahezu jeder Mensch mit Migrationshintergrund, selbst die dritte oder vierte Generation, macht solche Erfahrungen. Solche Verletzungen sitzen oft tief. Und wenn wir sie dann verurteilen und mit dem Finger auf sie zeigen, dann schieben wir sie erst recht in diese Richtung."