Kinder sitzen auf dem Fußboden in einem Waisenhaus in Beirut
reportage

Armut im Libanon Wenn Eltern ihre Kinder ins Waisenhaus geben müssen

Stand: 28.04.2024 20:40 Uhr

Durch die schlimme Wirtschaftskrise im Libanon können viele Eltern ihre Kinder nicht mehr richtig versorgen. Waisenhäuser bieten trotz Armut eine Perspektive. Allerdings ist das nur eine Übergangslösung.

Marwa und Safa halten ihre Großmutter fest an der Hand. Die beiden Zwillingsmädchen freuen sich, dass die Oma zu Besuch gekommen ist. Seit drei Jahren leben die Achtjährigen in einem Waisenhaus in Libanons Hauptstadt Beirut - auch wenn sie eigentlich keine Waisen sind. Doch zu Hause konnten sie nicht bleiben. "Die Lage im Libanon ist sehr schwierig", erzählt Oma Lothia. Grund dafür sei die Inflation. "Alle Leute sind ohne Arbeit. Wir leben von Tag zu Tag. Mein Mann ist Tagelöhner und arbeitslos. Seit einem Jahr hat er keine Aufträge mehr."

Um den kleinen Mädchen trotz Armut eine Perspektive zu bieten, entschloss sich die Familie, die Zwillinge in ein Waisenhaus zu geben. Ihre Eltern und Großeltern sehen die Mädchen nun nur noch alle 14 Tage besuchsweise. Doch sie bekämen immerhin Schulbildung und genug zu essen, betont die Großmutter immer wieder. "Sie können hier schlafen, gut essen, sind medizinisch versorgt, sie sind zufrieden. Hier haben sie alles, was sie brauchen."

Zwei Mädchen in einem Waisenhaus in Beirut

Die achtjährigen Zwillinge Marwa und Safa haben sich inzwischen an das Leben im Waisenhaus angepasst.

Die achtjährige Marwa vermisst ihre Familie. "Dann telefoniere ich mit ihnen, und sie sagen: 'Wenn Gott es will, kommen sie bald und holen mich wieder ab und kaufen mir ein Spielzeug'." Ihre Schwester Safa erzählt stolz, dass sie im Waisenhaus nun schon ganz viel alleine kann: "Ich dusche schon selbstständig. Ich bin jetzt ein großes Mädchen. Ich kann auch alleine spielen und anderen helfen. Und ich gehe zur Schule und lerne." Sie möchte Lehrerin werden.

Eltern sind weiter für Kinder verantwortlich

Safa und Marwa sind mit ihrer Geschichte nicht alleine. Die Zahl der Kinder, die - obwohl sie keine Waisen sind - ins Waisenhaus gebracht werden, habe deutlich zugenommen, berichtet Rania Sandout von der Waisenhausverwaltung. "Aufgrund der wirtschaftlichen Lage im Libanon wissen manche Eltern nicht mehr, wie sie ihre Kinder noch ernähren sollen. Hier werden die Kinder gut versorgt. Wir wählen sie sehr genau aus." Es müsse sicher sein, dass die Familie auch wirklich in Not ist. Außerdem müsse den Eltern bewusst sein, dass das Waisenhaus nur eine Übergangslösung sein kann für ein paar Jahre, so Sandout. Sie seien weiterhin für ihre Kinder verantwortlich.

Der Libanon befindet sich seit einigen Jahren in der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Die Währung hat 90 Prozent ihres Wertes verloren, die Preise für Lebensmittel sind um 600 Prozent gestiegen. Dementsprechend schwer fällt es selbst Familien der Mittelschicht, alle Kinder zu ernähren.

"Fälle von extremer Armut"

Allein bei diesem Waisenhaus-Träger in Beirut leben bis zu 900 Kinder - vom Baby bis zum Teenager. Die Mehrheit sind sogenannte Armutsfälle, erzählt Heimleiterin Rania Zahar. "Die Zahl ist definitiv dramatisch gestiegen. Wir erleben hier Fälle von extremer Armut. Einmal haben wir eine Vierjährige bekommen, die nicht wusste, wie man kaut, weil sie nur von Milch ernährt wurde." Manche Kinder würden keine Dusche und keine Toilette kennen, weil es das zu Hause nicht gab. "Wir bringen ihnen hier alles bei. Aber auch wir spüren die hohen Preise. Die Kinder brauchen viele Sachen und die Spendenbereitschaft ist zurückgegangen."

Alltag mit einer klaren Struktur

Auch die Angst vor einem Krieg mit Israel beschäftigt die Menschen im Libanon. Im Waisenhaus gibt es bereits Evakuierungspläne. Es versucht, ein Stück heile Welt inmitten der Krise zu sein. Die Wände sind bunt bemalt, es gibt Spielräume und liebevolle Erzieherinnen. Kleinkinder krabbeln über eine bunte Decke, ein Baby schläft auf dem Arm einer Betreuerin. Die älteren Kinder werden in Gruppen unterrichtet, lernen Zahlen und Buchstaben.

Und doch ist es nicht zu Hause. Der Alltag habe eine klare Struktur, berichtet Safa. Sie schläft mit ihrer Schwester und anderen Mädchen in einem Schlafsaal. "Wenn wir aufwachen, waschen wir uns und putzen uns die Zähne. Dann ziehen wir uns an und gehen in den Speisesaal. Nach dem Frühstück holen wir uns die Pausenbrote ab und gehen zum Schulbus. Nach der Schule wechseln wir von der Schuluniform in die Uniform unserer Sektion im Waisenhaus und dann gehen wir zum Essen", erzählt sie.

"Als die Zwillinge hier ankamen, waren sie erst nicht sehr aktiv", berichtet ihre Erzieherin. "Sie haben sich nicht angepasst und mitgemacht. Das war sehr schwierig. Jetzt kooperieren sie und spielen auch mit den anderen. Sie haben sich gewöhnt."

Kinder sollen lernen, ihren eigenen Weg zu gehen

Heimleiterin Rania wünscht sich nur eines: Dass es die Mädchen und die anderen Kinder im Waisenhaus schaffen, ihren eigenen Weg zu gehen - trotz aller Schwierigkeiten. "Wir ermutigen die Kinder immer, ein Ziel zu haben. Viele Kinder machen bei uns ihren Schulabschluss. Wir fragen die Kinder: 'Was möchtest du später werden? Wer ist dein Vorbild?' So wissen die Kinder, zu wem sie aufschauen können und welche Richtung sie einschlagen. Ich wünsche es den Kindern von Herzen. Ich hänge an ihnen. Ich wünsche mir, dass sie eine schöne Zukunft haben", so die Heimleiterin.

Ihr rinnen die Tränen über das Gesicht, auch weil sie weiß, dass sie trotz allem die Eltern nicht ersetzen kann. Die Zwillingsmädchen Safa und Marwa halten immer noch ihre Oma an der Hand. Ob die Mädchen wissen, warum sie im Waisenhaus sind? "Weil wir hier gut lernen können", sagen sie. Wie sollten sie auch eine Wirtschaftskrise verstehen? Als die Großmutter sich anschickt zu gehen, fangen die Zwillinge an zu weinen.

Anna Osius, ARD Kairo, tagesschau, 28.04.2024 20:56 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 26. April 2024 um 07:48 Uhr.