Verschwörungstheorien im Internet Eindeutig, scheinbar schlüssig - und kaum zu widerlegen
Viele Menschen sind überzeugt, die Anschläge vom 11. September 2001 seien von den USA inszeniert worden. Aktuell kursieren Theorien, wonach Al-Kaida-Chef Bin Laden nicht tot ist. Verschwörungstheorien bieten eindeutige Erklärungen in einer komplexen Welt, sagt der Publizist Jaecker im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Verschwörungstheorien sind populär. Zu historischen Ereignissen wie dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, dem Mord an John F. Kennedy, der Mondlandung oder dem 11. September 2001 kursieren diverse Legenden, an die viele Menschen glauben. Wie entstehen diese Theorien?
Tobias Jaecker: Sie entstehen bei Krisen und Konflikten - immer dann, wenn etwas undurchschaubar erscheint oder einfach unfassbar ist. So war es nach den Anschlägen vom 11. September, und so ist es jetzt nach der Tötung Bin Ladens. Bislang ist kein Foto des toten Al-Kaida-Chefs veröffentlicht worden, die schnelle Seebestattung überrascht. Und schon behaupten einige, Bin Laden sei schon seit Jahren tot und wittern eine Vertuschung dieser "Tatsache". Verschwörungstheorien liefern scheinbar schlüssige Erklärungen, das macht sie so erfolgreich.
Tobias Jaecker ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet unter anderem für den RBB und schrieb das Buch "Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September". Jaecker tritt zudem als Referent zu den Themen Antisemitismus, Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien auf.
tagesschau.de: Welche Bedürfnisse werden dadurch befriedigt?
Jaecker: Verschwörungstheorien sind eindeutig, sie benennen klar die vermeintlichen Drahtzieher des Geschehens. Damit geben sie vielen Menschen das gute Gefühl, die Zusammenhänge zu durchschauen. Die Ausgangsfrage ist dabei immer gleich: Cui bono, wem nützt es? Aktuell behaupten Verschwörungstheoretiker, die Nachricht von der vermeintlichen Tötung Bin Ladens nutze Barack Obama, weil sie ihm die Wiederwahl sichere. Das mag ein willkommener Nebeneffekt für den US-Präsidenten sein. Aber hat er die ganze Aktion nur zu diesem Zweck durchgeführt?
tagesschau.de: Viele Verschwörungstheoretiker argumentieren, man werde "ja wohl noch mal fragen dürfen".
Jaecker: Natürlich ist es ein zutiefst menschliches Bedürfnis, nach einleuchtenden Erklärungen zu suchen. Aufklärung und Kritik sind selbstverständlich richtig und wichtig. Bei Verschwörungstheorien handelt es sich aber um das glatte Gegenteil: Es sind selbsterfüllende Prophezeiungen.
tagesschau.de: Was zeichnet diese Theorien aus?
Jaecker: Entscheidend ist ihre geschlossene Form: Die zentrale Frage nach dem Täter und den Schuldigen steht immer vorher fest. Darauf aufbauend werden ausgeklügelte Begründungszusammenhänge konstruiert. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Verschwörungstheorien oft widersprüchlich sind: Willkürlich herausgegriffene Fakten dienen als "Beweise". Zufälle werden bestritten. Alles, was in die Theorie nicht hineinpasst, wird unterschlagen oder als "Propaganda" abgetan. So werden komplexe Vorgänge auf eine simple und überschaubare Story reduziert.
Auf der Suche nach dem Schuldigen
tagesschau.de: Ist das auch eine Abwehr der komplexen Moderne? Oder geht es nur um die Suche nach Sündenböcken?
Jaecker: Das hängt eng miteinander zusammen. Verschwörungstheorien blühen tatsächlich deshalb, weil sich viele Menschen die komplexen Vorgänge in unserer Gesellschaft nicht erklären können und nach einem Schuldigen für Miseren suchen. Die Theorien basieren auf Personalisierung: Stets wird im Verborgenen wirkenden Mächten unterstellt, das "einfache Volk" über den Tisch zu ziehen. Das war schon im 19. Jahrhundert der Fall, wie die antisemitische Hetzschrift "Die Protokolle der Weisen von Zion" zeigt. Darin wird im Grunde die gesamte moderne Gesellschaft durch das geheime Wirken "der Juden" erklärt. Heute wird Amerika mehr denn je für alle möglichen als negativ empfundenen Entwicklungen, wie etwa die wirtschaftliche Globalisierung, verantwortlich gemacht.
tagesschau.de: Warum sind die USA ein beliebtes Ziel?
Jaecker: Die USA haben eine große Macht, und die setzen sie auch ein. Das macht es Verschwörungstheoretikern leicht, ihnen reflexartig alle möglichen Dinge in die Schuhe zu schieben. Verschwörungstheorien sind allerdings nur dann erfolgreich, wenn sie gesellschaftliche Stimmungen und Vorurteile aufgreifen. In Deutschland gibt es eine unselige Tradition antiamerikanischer Ressentiments. Viele trauen "den Amis" generell nicht über den Weg. Deshalb werden sie für viele negative Dinge verantwortlich gemacht. Auch bei der Finanz- und Wirtschaftskrise war das zu beobachten. Indem die Schuld an derartigen Entwicklungen allein auf Amerika projiziert wird, verblassen die eigenen Fehler.
tagesschau.de: Im Fall Bin Laden beklagen viele Beobachter die Informationspolitik der USA. Lassen sich Verschwörungstheorien durch totale Transparenz entkräften?
Jaecker: Der DNA-Test oder die Begründung für die schnelle Seebestattung werden als Lügen abgetan. Dabei könnte man die Aussage der US-Regierung, dass man eine Pilgerstätte für Al-Kaida-Anhänger verhindern wollte, durchaus für schlüssig halten. Doch Verschwörungstheorien mit Argumenten widerlegen zu wollen, ist in der Regel zwecklos - Verschwörungstheoretiker fühlen sich dadurch in ihren kruden Theorien meist nur noch mehr bestätigt.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt das Internet?
Jaecker: Es beschleunigt und verstärkt die Entstehung von Verschwörungstheorien, unbewiesene Behauptungen ohne Quellenangabe werden oft in Sekundenschnelle zu vermeintlichen Beweisen. Auch das gefälschte Foto mit der angeblichen Leiche Bin Ladens, das am Tag nach der Tötung im pakistanischen Fernsehen gezeigt wurde, kursierte bereits vorher im Internet.
Zum 11. September gibt es Hunderte von Webseiten oder Amateurvideos mit gigantischen Klickzahlen, die nachweisen wollen, dass die USA hinter den Anschlägen stecken. Das Internet verschafft derartigen Theorien eine neue Sichtbarkeit und Wucht. Es sind ideologische Deutungsmuster in unübersichtlichen Zeiten, die im Internet ihr ideales Medium gefunden haben. Zur Aufklärung oder gar zu einer Verbesserung der Verhältnisse tragen diese Theorien nichts bei. Sie schüren Ressentiments und bedienen Feindbilder - das macht sie so gefährlich.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de