Interview

Interview zur Lage in Tunesien "Das hier ist eine neue Qualität"

Stand: 07.02.2013 17:33 Uhr

Seit Monaten nimmt die politische Gewalt in Tunesien zu. Die Ermordung des Oppositionellen Belaid stellt trotzdem eine "neue Qualität" dar, sagt Hardy Ostry, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis. Um eine Gewaltspirale zu verhindern, komme es nun auf drei Dinge an.

tagesschau.de: Nach der Jasmin-Revolution von 2011 dachten viele, Tunesien hätte einen sicheren demokratischen Weg eingeschlagen. Doch der Mordanschlag auf den Oppositionspolitiker Chokry Belaid hat Beobachter ernüchtert – wie konnte es plötzlich zu dieser Gewalt kommen?

Hardy Ostry: Mit einem solchen Mordanschlag hatte kein Mensch in Tunesien gerechnet. Tunesien trat aber im letzten Jahr in eine Phase ein, in der politische Gewalt stark zugenommen hat. Das ist eher schleichend und relativ unbemerkt von der Weltöffentlichkeit geschehen und hat vor allem mit dem Anschlag auf die US-Botschaft in Libyen zu tun. Diese Gewalt ist nach Tunesien hinüber geschwappt. So kam etwa im vergangenen Oktober ein Mitglied der Opposition nach einer Prügelattacke von Regierungsanhängern ums Leben. Seitdem hat die Akzeptanz von Gewalt als Mittel der Politik in Tunesien leider zugenommen. Von daher ist das Phänomen nicht neu, aber das hier ist ein neue Qualität. In dieser Radikalität kam es auch für die meisten Tunesier überraschend.

Zur Person

Hardy Ostry, geboren am 21. September 1970, leitet das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Tunis. Er hat Katholische Theologie, Germanistik und Politikwissenschaften in Trier und Jerusalem studiert und war unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier im Bereich deutsch-jüdische Geschichte und Nahost-Konflikt tätig.

Er hat zahlreiche Artikel über die Staaten im Maghreb veröffentlicht und verfolgt seit der Jasmin-Revolution besonders die Entwicklungen in Tunesien. Zuvor war er in Benin und Jordanien für die Internationale Zusammenarbeit der KAS verantwortlich.

tagesschau.de: Drohen in Tunesien jetzt Zustände wie in Ägypten?

Ostry: Alles wird davon abhängen, wie schnell sich nun eine handlungsfähige Regierung formieren kann. Der jetzige Ministerpräsident Dschebali versucht zwar zu vermitteln, aber die heftigen Streitigkeiten der politischen Lager könnten die Krise weiter verschärfen. Was das Land braucht, ist politische Führung und ein klarer Fahrplan, also wann die neue Verfassung in Kraft treten und neue Wahlen stattfinden sollen. Das ist die Voraussetzung dafür, die eigentlichen Probleme des Landes, nämlich die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage, ernsthaft anzugehen. Sonst droht Tunesien eine Phase verschärfter politischer Gewalt.

tagesschau.de: Welche Auswirkungen wird dieser Mordanschlag auf die Demokratisierung Tunesiens haben?

Ostry: Das ist im Moment nur schwer einzuschätzen. Tunesien befindet sich noch in einer Art Schockstarre, die Leute können das alles noch nicht richtig begreifen. Der Vorteil hier ist, dass das Land in seiner Geschichte kaum politische Gewalt erlebt hat. Wenn nun die Politiker, die Medien und die Zivilgesellschaft Verantwortung übernehmen und solche Attentate einhellig verurteilen, wird es auch bei dieser gesellschaftlichen Ächtung von politischer Gewalt bleiben. Damit hätte auch die junge Demokratie eine gute Chance. Wenn Tunesien aber in eine Gewaltspirale eintritt - was einige Beobachter vor Ort befürchten - dann sieht es auch für die demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung schlecht aus.

tagesschau.de: Die Angehörigen von Chokri Belaid sehen die Verantwortung für dessen Ermordung gar bei der regierenden islamistischen Ennahda-Partei. Wie stark ist der Rückhalt der Islamisten in der Bevölkerung?

Ostry: Momentan liegt die regierende Ennahda-Partei in Umfragen bei gut 30 Prozent. Sie fängt bislang die islamistischen Tendenzen im Land relativ gut auf. Allerdings ist knapp zwei Jahre nach der Revolution bei der Bevölkerung eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Viele haben den Eindruck, dass die Politik sich vor allem mit sich selbst beschäftigt. Und diese Unzufriedenheit treibt den radikaleren Parteien die Wähler zu. Beim nächsten Urnengang dürften also die radikalen Salafisten größere Erfolge verbuchen, und könnten dann als Koalitionspartner der Ennahda in die Regierung einziehen - Tunesien droht dann eine weitere Islamisierung.

tagesschau.de: Wie ist die Situation der Opposition - kann sie frei arbeiten oder wird von politischen Gegnern Druck ausgeübt?

Ostry: Die Opposition kann prinzipiell relativ frei arbeiten, und sie kann auch die Öffentlichkeit mobilisieren. Das hat sich nach dem Mordanschlag gezeigt, als Tausende auf die Straße gingen, um zu protestieren. Aber natürlich gibt es immer wieder Probleme. So werden etwa Gewerkschaftsveranstaltungen und Treffen des Oppositionsbündnisses "Nida Tounes" regelmäßig von politischen Gegnern gestört. Außerdem erhalten Oppositionsführer Morddrohungen: Der Vorsitzende von "Nida Tounes" und auch der ermordete Belaid wurden zuvor von Unbekannten mehrfach bedroht.

tagesschau.de: Sie sehen die Gewalt auch als Folge der großen wirtschaftlichen Probleme des Landes. Weshalb sind die Menschen so unzufrieden?

Ostry: Ein riesiges Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit, gerade unter Jugendlichen. Insgesamt sind 18 Prozent der Tunesier ohne Job und das hat gravierende soziale Folgen. Fast täglich gibt es hier kleinere oder größere Streiks. Der Ausbildungsmarkt ist noch nicht gut entwickelt und es gibt ein starkes Gefälle zwischen den florierenden Regionen an der Küsten und dem eher armen Landesinneren. Es kam deshalb in den vergangenen Monaten auch immer wieder zu sozialen Unruhen. Dennoch haben die massenhaften Proteste nach der Ermordung Belaids gezeigt, dass die allermeisten Tunesier diese Tat verurteilen und Gewalt als Mittel der Politik nicht akzeptieren wollen.

Das Gespräch führte Alexander Steininger, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau vom 8. Februar 2013 um 09:00 Uhr.