Referendum in der Türkei "Erdogan will nicht versöhnen"
Wir gewinnen Wahlen und wir bestimmen - so lautet Erdogans Demokratieverständnis. Das gespaltene Land versöhnen? "Erdogan hat kein Interesse an einer Konsensgesellschaft", sagt ARD-Korrespondent Baumgarten im Interview und erklärt die Sehnsucht der Türkei nach einem starken Führer.
tagesschau.de: Das Rennen ist sehr knapp für Erdogan ausgegangen. Ist es nicht - gemessen an der Vehemenz seines Wahlkampfs - eigentlich eine herbe Niederlage für Erdogan?
Reinhard Baumgarten: Das Ja-Lager hat gewonnen, aber wenn man die Machtverhältnisse im türkischen Parlament zusammenzählt, die Macht von AKP und MHP, dann kommt der Sieg wie eine Niederlage daher. AKP und MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) haben ein Wählerpotenzial von 60 Prozent, das Ja-Lager kam aber nur auf 51 Prozent. Zahlreiche AKP und MHP-Wähler haben also Erdogans Kurs nicht mitgemacht.
tagesschau.de: Hat die Opposition mit ihren Anfechtungen eine realistische Chance?
Baumgarten: Das ist extrem unwahrscheinlich. Salopp gesprochen gilt hier das gesprochene Wort und das stammt von Präsident Erdogan. Er hat am Abend den Sieg verkündet, den der Leiter der Wahlkommission kurz danach auch brav bestätigt hat.
Reinhard Baumgarten berichtet für den ARD-Hörfunk aus dem Studio Istanbul. Zu seinem Berichtsgebiet gehören neben der Türkei auch der Iran, sowie Griechenland und Zypern. 2011 eröffnete er das ARD-Hörfunkstudio in Teheran. Bis 2006 war Baumgarten Korrespondent im ARD-Hörfunkstudio Kairo.
tagesschau.de: Das knappe Votum belegt die tiefe Spaltung des Landes. Wie kann Erdogan jetzt versöhnen?
Baumgarten: Erdogan legt offenbar keinen gesteigerten Wert auf eine Konsensgesellschaft. Erdogans Demokratieverständnis lautet: Wir gewinnen die Wahlen und wir bestimmen. Es ist nicht so, dass Erdogan zu einer großen Runde bittet und alle zusammen den Konsens suchen. Nein. Er ist vom Volk gewählt und derjenige, der die politische Grundrichtung vorgibt - so sieht er sich zumindest und so handelt er in immer stärkerem Maße.
Maximum an Polarisierung
tagesschau.de: Der harte Wahlkampf und Erdogans maximale Polarisierung haben Spuren hinterlassen - auch im Ausland. Jetzt ist er am Ziel und bekommt sein Präsidialsystem, da könnte er doch verbal abrüsten …
Baumgarten: Gut möglich, dass er nun von seinem Maximum an Polarisierung ein paar Abstriche macht und nur noch ganz normal - für seine Verhältnisse - polarisiert. Ich glaube nicht, dass er aufhört zu polarisieren. Durch Polarisieren und Eskalieren hat er viele Wahlen gewonnen.
tagesschau.de: Könnte es nun auch Bewegung im Fall Yücel geben?
Baumgarten: Ich kann mir vorstellen, dass Erdogan sich hier bewegen wird - als Geste gegenüber Deutschland.
Aserbaidschans Präsident als erster Gratulant
tagesschau.de: Wie sollte die EU auf den Ausgang des Referendums reagieren?
Baumgarten: Nicht vorpreschen und damit Erdogan die Steilvorlage bieten für weitere verbale Ausfälle gegen die EU. Die EU sollte sich zurücklehnen und an ihren Prinzipien auf Grundlage der Kopenhagener Erklärung festhalten.
tagesschau.de: ... diese Kriterien für einen EU-Beitritt interessieren Erdogan aber nach eigener Aussage nicht. Ihn interessierten nur die Ankaraner Kriterien …
Baumgarten: Wohin das führt, haben wir gesehen: Der erste Gratulant nach dem Referendum war der Präsident von Aserbaidschan, Ilham Alijew - gefolgt von Politikern aus Katar, Bahrain, Pakistan der Hamas und den Muslimbrüdern. Das ist die Richtung, in die sich Erdogan orientiert. Deren Herrschaftsformen kennen auch nur sehr begrenzt das Prinzip von Checks and Balances - also der gegenseitigen Kontrolle staatlicher Organe. Auch Erdogans angestrebtes System will die Gewaltenteilung mindestens einebnen, wenn nicht sogar aufheben. Und das ist der große Unterschied zu den Präsidialsystemen in den USA oder Frankreich.
tagesschau.de: Wie geht es im Kurdenkonflikt nun weiter?
Baumgarten: Erdogan hat sich nach seinem Wahlsieg bei konservativ-religiösen Kurden bedankt, natürlich nicht bei der PKK, aber bei einer Partei namens Hüdapar - das ist die frühere türkische Hisbollah. Die konservativen Kurden will Erdogan stärken. Die Dorfschützer will Erdogan aufstocken. Das sind paramilitärische Einheiten, die von der türkischen Führung bewaffnet und bezahlt werden, im Moment sind das bis zu 50.000 Leute. Sie liefern sich immer wieder heftige Scharmützel mit der PKK, von der sie als Verräter des kurdischen Volkes angesehen werden. Ganz sicher wird es keinen neuen Friedensprozess mit der PKK geben. Denn dieser Prozess endete im Juni 2015 mit der Wahlniederlage der AKP.
Erdogan kommt von unten
tagesschau.de: Woher kommt die Sehnsucht der Türken nach einem starken Mann?
Baumgarten: Diese Sehnsucht ist nicht mit Erdogan entstanden. In der Türkei gab es immer starke Führer, etwa Republiksgründer Atatürk. Der Wunsch nach Führung von oben ist in der Türkei sehr ausgeprägt, vor allem bei islamisch konservativen Kräften, die aber von der Elite lange an den Rand gedrängt wurden.
tagesschau.de: Und Erdogan bedient nun die Sehnsucht dieser islamisch-konservativen Kräfte? Er kommt ja auch nicht aus der Elite.
Baumgarten: Richtig. Erdogan hat sich nach oben gearbeitet. Er ist kein Aristokrat, er kommt nicht aus dem Bildungsbürgertum. Viele Leute bewundern ihn, weil er sich aus kleinen Verhältnissen nach oben gearbeitet hat - mit viel Machtgespür. Und Erdogan spricht weiter die Sprache der kleinen Leute.
tagesschau.de: Heißt das: Er liefert einfache Antworten auf komplizierte Sachverhalte?
Baumgarten: Ja, und das kann er gut, weil er aus diesen einfachen Verhältnissen kommt. Er muss sich nicht verstellen. Erdogan beherrscht die Sprache des Volkes. Das ist sein Erfolgsgeheimnis.