Zwei Jahre Brexit-Votum Alles hängt an der Irland-Frage
Vor zwei Jahren, am 23. Juni 2016, beschlossen die Briten in einem Referendum den Austritt aus der EU. Seitdem dauern die Verhandlungen über den besten Weg aus der Union an. Der Austrittstermin ist wohl nicht mehr zu halten, sagen Experten.
Wie ist das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU?
Wer sich rarmacht, macht sich interessant? Diese vermeintliche Weisheit aus der Welt der Liebeskolumnen und Beziehungsratgeber trifft auf den Brexit nicht zu. Die Verhandlungen gestalten sich zäh. Kein Wunder, möchte man meinen, wenn der britische Politik-Kommentator Andrew Rawnsley zuletzt in der Wochenzeitung "The Observer"* feststellte, dass die sogenannten Festlandeuropäer "nicht mehr großartig an dieser Insel interessiert sind".
Nach mehreren Reisen durch Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Spanien schrieb Rawnsley, seine Gespräche hätten ihm gezeigt, dass "unserer engsten Nachbarn" dem, was im Vereinigten Königreich geschehe, nicht viel Aufmerksamkeit schenken würden. Sie hätten wichtigeres zu tun.
Präsident Macron, Premier May und Kanzlerin Merkel. Die Brexit-Verhandlungen belasten die EU-Reformen nur zusätzlich.
Natürlich plant die EU eine Zukunft ohne Großbritannien. Frankreich und Deutschland werden beim kommenden EU-Gipfel konkrete Vorschläge für eine Reform der Union und der Eurozone machen. Die Brexit-Verhandlungen belasten bei ihren Reformen nur zusätzlich. Darüber hinaus war das britische Votum für den EU-Austritt jedoch vor allem Ausdruck der Fliehkräfte innerhalb der EU, die den Staatenbund noch immer beschäftigen. Das zeigte zuletzt die Wahl der neuen, europakritischen Regierung in Italien.
(*Der Artikel von Andrew Rawnsley wurde am Sonntag den 17. Juni 2018 auf der Online-Seite der Tageszeitung "The Guardian" veröffentlicht. In einer früheren Fassung war an dieser Stelle deshalb davon die Rede, dass der Artikel in der Tageszeitung "The Guardian" erschienen war. "Observer"-Artikel erscheinen auf der Online-Seite des "Guardian".)
Wie gestalten sich die Verhandlungen?
EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprachen sich wiederholt für einen Verbleib Großbritanniens in der EU aus. Anfang des Jahres sagte Tusk im Europaparlament, falls die Briten ihre Meinung ändern sollten, seien "unsere Herzen weiter für sie offen". Juncker sagte, "dass unsere Tür nach wie vor offen steht". Nach dem Brexit könne Großbritannien jedoch nicht dieselben Rechte haben, die es als Mitglied hätte.
In den Verhandlungen ist es aus Perspektive der EU vor allem ein Problem, dass London keine einheitliche Position zum Brexit findet. Immer wieder werden Regierung und Unterhaus von den Lords im britischen Oberhaus zurechtgewiesen.
Theresa May im April im Unterhaus. Die Premierministerin hat kein Interesse, sich die Hände bei den Verhandlungen vom Parlament binden zu lassen.
Der Rechtswissenschaftler Matthias Ruffert von der Humboldt-Universität sagt im Gespräch mit tagesschau.de, dass das Oberhaus als zweite Kammer im Parlament seine Kontrollfunktion ausübe. Es scheinen laut Ruffert in der Kammer jedoch auch Kräfte zu wirken, die gegen den EU-Ausstieg Großbritanniens sind.
Zuletzt stimmte die Kammer am Montag mit großer Mehrheit für einen Zusatz zum EU-Austrittsgesetz, der dem Parlament die Kontrolle über den Brexit-Prozess gegeben hätte, falls ein Abkommen mit Brüssel nicht mehr rechtzeitig zustande kommen oder vom Parlament abgelehnt werden sollte.
Premierministerin Theresa May hat jedoch kein Interesse, sich die Hände bei den Verhandlungen vom Parlament binden zu lassen. Bei der Abstimmung im Unterhaus entging ihre Regierung recht knapp der befürchteten Niederlage durch mögliche Brexit-Gegner in ihrer Partei. Nachdem anschließend auch das Oberhaus zustimmte, gilt nun ein Kompromiss, der vorsieht, den Parlamentspräsidenten entscheiden zu lassen, ob die Abgeordneten Änderungsanträge für das künftige Brexit-Abkommen stellen dürfen.
Welche Position vertritt die britische Regierung?
Einen Verbleib in der Zollunion der EU schließt May bislang aus. Sie strebt ein Freihandelsabkommen an. Um das zu erreichen, muss sich May im Unterhaus vorsichtig verhalten. Seit der vorgezogenen Parlamentswahl im vergangenen Jahr steht sie nur noch einer Minderheitsregierung vor, die von der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) toleriert wird.
Sie muss aber auch die Brexit-Gegner in ihrer Partei zufrieden stellen. Der Jurist Walther Michl, Experte für Öffentliches Recht und Europarecht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München bezeichnet die innerparteilichen Auseinandersetzungen der regierenden Tories im Gespräch mit tagesschau.de als Hahnenkampf. "Es ist traurig, mitanzuschauen", so Michl. Vielfach gehe es lediglich um taktische Spiele.
Wie sieht der Zeitplan aus?
Im März 2017 stellte die Regierung in London den Antrag auf Austritt. Im März 2019 soll dem Artikel 50 des EU-Vertrages entsprechend der Brexit vollzogen werden. Ein Mal im Monat treffen sich EU-Chefunterhändler Michel Barnier und Großbritanniens Beauftragter David Davis in Brüssel und besprechen das Fortkommen. Im Herbst soll eine Übereinkunft hergestellt sein.
Der Jurist Michl rechnet aber nicht damit, dass der Fahrplan bis zum Austritt im März 2019 eingehalten werden kann. Das sei schon nicht möglich, weil alle EU-Länder einen Austrittsvertrag, der über die grundlegendsten Trennungsfolgen hinausgeht, ratifizieren müssen, sagt er.
Um zumindest Unternehmen eine gewisse Sicherheit zu geben, wurde im vergangenen März eine Übergangszeit für den Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion vereinbart. Sie gilt bis Ende 2020.
Worin besteht der Streit zurzeit im Kern?
Noch nicht gänzlich geklärt ist der künftige Status der EU-Bürger in Großbritannien. Vor allem aber geht es in den Gesprächen zurzeit um die Zukunft der Grenze zwischen Nordirland und Irland - also der einzigen zukünftigen Landgrenze zwischen der EU und Großbritannien. Wie durchlässig soll sie sein? Was bedeutet eine Grenze für eine mögliche Zollunion mit der EU, wenn Großbritannien wie geplant den EU-Binnenmarkt verlassen hat?
Grenzstraße zwischen Irland und Nordirland. Monatlich fahren nach Angaben der irischen Regierung mehr als 1,8 Millionen Mal Autos über die grüne Grenze beider Staaten.
Für die Briten sind die Fragen unangenehm, weil sie entweder Auswirkungen auf das irisch-nordirische Verhältnis haben oder die Integrität Großbritanniens berühren. Auch deshalb räumte die EU-Kommission den Verbleib im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion bis Ende 2020 ein. Aber die Regelung verschiebt die Problematik nur.
Woran könnten die Gespräche scheitern?
Eigentlich seien die meisten Streitpunkte schon durchverhandelt, sagt Ruffert. "Es kommt allein darauf an, ob sich die Irland-Frage lösen lässt", so der Rechtswissenschaftler. Es sei schlicht nicht möglich, sie zu lösen, ohne dass einer der Beteiligten schwerwiegende Zugeständnisse mache.
Eine durchlässige Grenze zwischen Irland und Nordirland ist Teil des Karfreitagsabkommens von 1998, das eine weitreichende Annäherung zwischen den beiden Staaten auf der irischen Insel ermöglichte und den Nordirland-Konflikt befriedete.
Die Regierung in London schlug vor, zeitlich befristet auch nach 2020 die Regeln der Zollunion anzuwenden, sollte bis dahin keine Lösung gefunden werden. Barnier Gegenvorschlag lautet, die Grenze der EU-Zollunion zwischen der irischen Insel inklusive Nordirland und der britischen Insel zu ziehen. Damit bliebe der Status quo der irischen Grenze unangetastet. Premier May sagte jedoch wiederholt, dass sie niemals eine Zollgrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs akzeptieren werde. Auch die nordirische Partei DUP, die Mays Minderheitsregierung stützt, würde dem wohl kaum zustimmen, so Ruffert.
Welche Aussicht auf Erfolg haben die Verhandlungen?
"Die Verhandlungen dauern so lange, wie verhandelt wird", sagt Ruffert. Er glaube nicht, dass die Unterhändler vor dem 29. März fertig werden, sondern erst in der letzten Nacht eine Einigung erzielen. Und danach würde es, wie schon vereinbart, eine Übergangsfrist geben.
Ähnlich äußert sich auch Michl. "Zurzeit ist es nicht möglich, die Verhandlungen abzuschließen, da es keine einhellige Meinung in Großbritannien gibt", so der Rechtswissenschaftler. Er vermutet, dass sich die Beteiligten noch vor dem Austrittstermin pauschal auf ein Übergangsabkommen einigen werden, in dem der Status quo eingefroren wird, um weiter verhandeln zu können. "Die britische Regierung braucht Zeit", sagt Michl.
Wann auch immer eine Einigung kommt und wie sie dann aussieht - klar scheint zu sein, dass der Austrittstermin am 29. März 2019 nicht mehr zu halten ist.
Was würde nach einem Scheitern der Verhandlungen folgen?
Laut Artikel 50 des EU-Vertrags würde für Großbritannien die Mitgliedschaft zwei Jahre nach Antrag auf EU-Austritt automatisch erlöschen. Das wäre also am 29. März 2019. Je länger die Zeit bis zu diesem Datum voranschreitet, desto stärker wird der Druck auf die Regierung in London.
EU-Chefunterhändler Barnier, rechts, mit Großbritanniens Beauftragten Davis in Brüssel. Je länger die Zeit voranschreitet, desto stärker der Druck auf London.
Aussagen von EU-Diplomaten zufolge könnte Großbritannien möglicherweise eine Verlängerung der Brexit-Verhandlungen beantragen. Ein Antrag sei jedoch nicht zwingend, sagt Ruffert. Eine Verlängerung der Verhandlungen sei auch im Einvernehmen mit Großbritannien möglich. In jedem Fall müssten jedoch die Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden EU-Mitglieder einem solchen Antrag zustimmen - einstimmig.