Presseschau zum Friedensnobelpreis "Gewürdigt und ermutigt"
Es war eine weitgehend nachvollziehbare Entscheidung des Osloer Komitees, den Friedensnobelpreis an die EU zu vergeben. Darin sind sich heute auch die Kommentatoren der meisten Zeitungen einig. Gemischter ist das Bild, wenn es um die Konsequenzen geht. Lesen Sie nach - in unserer Presseschau.
"Nein, nicht alles ist gut in Europa", schreibt die "Süddeutsche Zeitung". "Aber es ist sehr vieles sehr viel besser als jemals zuvor. Und deswegen ist die Entscheidung des Nobelpreiskomitees richtig. Die Europäische Union hat Frieden befördert und ist selbst ein Symbol für eine bessere, gedeihlichere Art des Zusammenlebens. Im Sinne des Versprechens, das im Wort 'Union' steckt, stehen die Europäer auch für die Zukunft in der Pflicht. Europa und seine Bürger haben diesen Nobelpreis redlich verdient."
"Prozess der Einigung fortsetzen"
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt: "Das Nobelkomitee des norwegischen Parlaments vergibt den Friedensnobelpreis manchmal in Anerkennung zurückliegender Bemühungen und Verdienste um Frieden und Menschenrechte: So hat ihn Jimmy Carter erst 2002 bekommen, mehr als zwanzig Jahre nach seiner Abwahl als amerikanischer Präsident. Barack Obama dagegen wurde 2009 ausgezeichnet, im ersten Jahr seiner Amtszeit: Das sollte damals eine Ermutigung sein, eine Art symbolischer Vorschuss, den der amerikanische Präsident in seiner bisherigen Amtszeit allerdings nicht zurückzahlen konnte. Der Friedensnobelpreis für die Europäische Union ist beides zugleich: Gewürdigt wird die friedensstiftende Funktion der europäischen Integration. Die Preisverleihung ist aber auch eine Ermutigung, den Prozess der europäischen Einigung fortzusetzen, trotz der Schwierigkeiten, in die er gegenwärtig geraten ist."
"Kurze Freude über Anerkennung"
Die "Leipziger Volkszeitung" sieht es ähnlich: "Wenn das Nobelkomitee mit der Verleihung des Preises zum jetzigen Zeitpunkt eine Botschaft verbinden wollte, dann kann es nur diese sein: Ihr Europäer in den Mitgliedsstaaten und in den Staaten auf der Anwärterliste, ihr dürft nicht nachlassen mit dem großen Einigungswerk. Auch nicht unter dem Eindruck einer schweren Krise."
"Nicht trotz, sondern wegen der gegenwärtigen Krise Europas ist nach Ansicht des Nobelkomitees der Augenblick gekommen, sich auf die friedensstiftende Leistung der Gemeinschaft zu besinnen", schreibt die Chemnitzer "Freie Presse". "Natürlich überschatten gerade Krisen und Streitigkeiten die europäische Integration. Der Euro könnte noch zum Spaltpilz werden, der das Friedensprojekt in seinen Grundfesten erschüttern wird. Der Nobelpreis darf daher nicht zur Selbstzufriedenheit im europäischen Haus führen. Die Defizite der Union sind zu offensichtlich, als dass sie weiter ignoriert werden könnten. Der beschwerliche Weg der europäischen Integration sollte die kurze Freude über die Anerkennung der bisherigen Leistung nicht trüben."
EU muss sich weiter verändern
Für die "Frankfurter Rundschau" ist nun die EU nun in der Pflicht: "Von Werten wie Frieden und Demokratie sprach das Nobelkomitee in seiner Begründung. Das Friedensprojekt Europa ist weitgehend vollendet. Bleibt, die Demokratie voranzubringen. Das bedeutet: mehr Rechte für das Europäische Parlament und stärkere politische Zusammenarbeit der Staaten. Der Preis ist nicht nur eine Anerkennung, er ist auch Ermutigung, das Werk Europa voranzubringen."
Für die "tageszeitung" aus Berlin haben die Norweger mit der Preisverleihung Humor bewiesen, denn: "Norwegen gehört der Europäischen Union nicht an, die Norweger haben sich einer Mitgliedschaft mehrfach verweigert, sie dürfen also ihre gigantischen natürlichen Ressourcen selbstbestimmt verwalten. Ergebnis: Das Land braucht sich weniger Sorgen um seine Zukunft zu machen als jedes andere in Europa. Die EU hat ohne eigenes Zutun nachhaltig Frieden geschaffen - in Norwegen."
Vorbild für die Welt
"Die Auszeichnung der EU hat auch für den Rest der Welt Bedeutung", betont die "Hannoversche Allgemeine Zeitung". "Sie ist ein Fingerzeig für Regionen wie den Nahen Osten oder den Pazifik, wo politische Führer unterwegs sind, die auch im 21. Jahrhundert allen Ernstes einen veritablen Krieg zwischen Nationen als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln für zulässig halten und einkalkulieren. Den sonst so modernen Mächten in Asien kam es leider bis heute nicht in den Sinn, sich auf grenzüberschreitend geltende Regeln für Frieden und Zusammenarbeit zu einigen. In vielen Weltregionen fehlt dreierlei: der gemeinsame Blick nach vorn, der Mut, auf Menschen zuzugehen, die man eben noch zu seinen Feinden rechnete, und die Phantasie, konkrete Projekte zu entwerfen, die nicht nur dem einen oder anderen, sondern allen Beteiligten eine Perspektive bieten."
"Preisgeld weiterreichen"
Der "Donaukurier" aus Ingolstadt überlegt, warum die EU die Auszeichnung gerade jetzt erhalten hat: "Seit Beginn der Schuldenkrise herrscht Hauen und Stechen zwischen den europäischen Hauptstädten. Alte Vorurteile und Rivalitäten kochen hoch und werden genüsslich gepflegt. Auf dem Weltmarkt ist die EU als geballte Wirtschaftsmacht eine der Großen, die ihre Interessen, koste es was es wolle, durchsetzen. Aber die Entscheidung ist gefallen, und möglicherweise beschließt die in diesem Jahr Geehrte ja noch, das Preisgeld weiterzureichen, beispielsweise an den sogenannten Alternativen Nobelpreis. Mit dem werden seit Jahren hervorragende Persönlichkeiten bedacht, die sich mit aller Kraft für Frieden, Menschenrechte und Umwelt einsetzen."
"Es gäbe nachvollziehbarere Preisträger"
Die "Rhein-Zeitung" aus Koblenz blickt ebenfalls kritisch auf die Preisvergabe: "Auch wenn niemand ernsthaft bestreiten will, dass die Union seit ihren Anfängen in den 1950er-Jahren, basierend auf der deutsch-französischen Aussöhnung, ein Garant für den Frieden in einem durch zwei Weltkriege zerrütteten und verfeindeten Kontinent war und ist: Die Preisvergabe an eine Organisation oder Institution funktioniert eher, wenn dahinter Menschen stehen, die eine Idee leben, in die Tat umsetzen und damit im Sinne des Preisstifters Friedensarbeit leisten. Die Auszeichnungen für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen oder die Organisation 'Ärzte ohne Grenzen' sind vor diesem Hintergrund sicher nachvollziehbarer als die aktuelle Entscheidung."
"Natürlich ist es sympathischer, wenn Menschen aus Fleisch und Blut den Nobelpreis verliehen bekommen", meint der "Reutlinger General-Anzeiger". "Die Ehrung einer riesig-amorphen, komplexen und unvollkommenen Sozial-, Polit-, Macht- und Bürokratiestruktur, die sich in einem nie endenden Entwicklungsprozess befindet, berührt viele Menschen womöglich negativ. Und doch muss man feststellen, dass nur wenige Preisträger in den vergangenen Jahren diese Auszeichnung derart verdient haben wie die EU. In Wahrheit ist doch im täglichen Leben kaum jemandem bewusst, dass Frieden, Freiheit, Demokratie, sozialer Ausgleich und Sicherheit überhaupt keine Selbstverständlichkeit sind."
"Wir sind Nobelpreis!"
"Wer bekommt eigentlich den Preis?", fragt die Zeitung "Die Welt". "Herr Barroso? Frau Merkel? Das Europäische Parlament und der schneidige Herr Schulz? Die Kommission, 'Brüssel', posthum die Gründungsväter von Altiero Spinelli bis Jean Monnet? Europas Staaten und Völker, am Ende gar wir alle? Ja, das wird es sein: Wir sind Nobelpreis! Eine schöne, erhebende Entscheidung. Aber auch eine, die im Ungefähren verbleibt. Die EU gäbe es ohne ihre Bürger so wenig wie ohne ihre Macher. Was hat der Krieg, was hat das Volk, was haben Politiker, was haben die neuen europäischen Institutionen zu dem Friedenswerk beigetragen? Dazu schweigt die Entscheidung."
Die "Neue Osnabrücker Zeitung" findet, dass der Preis an jeden Bürger in Europa geht, denn: "Er hatte und hat alltäglich seinen Anteil daran, dass die europäische Integration zum Erfolg wurde - und so darf sich jeder Einzelne darüber freuen, als Teil der EU geehrt worden zu sein."
"Einfache Bürger sollen Preis entgegennehmen"
Der "Kölner Stadt-Anzeiger" rät deshalb: "Die EU-Kommission würde den Nobel-Gedanken am besten mit Leben erfüllen, wenn sie zur Preisverleihung einen einfachen Bürger aus jedem Mitgliedsland entsendet. Lassen die üblichen Verdächtigen sich einmal mehr feiern, verkehrt eine solche Auszeichnung sich leicht in ihr Gegenteil und vergrößert den Abstand zum Bürger noch einmal. Das ist zu vermeiden. Denn jetzt wäre die Zeit gekommen innezuhalten und zu sagen: Dieses Europa kann eigentlich auch ein wunderbares Gebilde sein."
Quelle: Deutschlandfunk