Nostalgiereise an die Grenze zwischen Österreich und Ungarn Wo ein Picknick Europa veränderte
Es war ein historisches "Picknick": Hunderte DDR-Bürger nutzten die Gelegenheit und flohen in den Westen - die ungarischen Grenzer schauten weg. Bundeskanzlerin Angela Merkel dankte jetzt bei einem Besuch in Ungarn der Regierung in Budapest für ihren Beitrag zur Deutschen Einheit: "Ungarn hat dem Willen der Deutschen aus der DDR Flügel verliehen", sagte sie in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze.
Von Andrea Mühlberger, ARD-Hörfunkstudio Wien
Steppe, Störche, Schilf, Sonnenblumenfelder - und jede Menge Weinreben. Kaum zu glauben, dass sich in dieser beschaulichen Puszta-Einsamkeit zwischen Ungarn und Österreich vor 20 Jahren schier Unerhörtes zugetragen hat. Als die Schranke zwischen Mörbisch und Fertörakos nicht nur symbolische Bedeutung hatte, sondern die Grenze noch ein Eiserner Vorhang war. Kein Rad- und Wanderweg, an dem sich Touristen vor der Mittagshitze erschöpft in den Schatten flüchten und ihre Picknick-Decke auslegen - so wie vor 20 Jahren beim legendären "Paneuropa-Picknick".
"Die Leute sind heute offener und gelassener"
Mehr als 600 DDR-Bürger flüchteten damals in den Westen. Im Jubiläumsjahr gerät man schnell in den Verdacht, als Nostalgie-Tourist unterwegs zu sein: "Uns freut es, dass die Grenze heute offen ist. Dass jetzt jeder reisen darf. Und man merkt die Freiheit. Die Leute sind heute offener, gelassener", sagen deutsche Urlauber, die angeblich nur auf Genussreise rund um den Neusiedler See sind. "Mörbisch mit seinen Seefestspielen, Rust mit den Storchennestern auf den Häusern, das Flair und die netten Leute - das ist heute fast eine Einheit."
Nur wenige interessieren sich für die Vergangenheit
Bis heute ist der schmale Grenzweg zwischen Mörbisch und Fertörakos für Autos gesperrt. Das macht ihn bei Radfahrern umso beliebter. Nur wenige halten bei der kleinen Gedenktafel, um sich über die Ereignisse im Wendejahr 1989 zu informieren. Einigen Ostdeutschen ist der Jubiläumssommer allerdings einen Ausflug an die frühere Grenze wert.
DDR-Flüchtlinge gehen durch das geöffnete Grenztor von Ungarn nach Österreich.
Für manche hat hier ein neues Leben begonnen: "Viele sind von Fertörakos in den Westen geflohen. Jetzt kommen sie, schauen, wo sie damals gewohnt haben, wie die Häuser aussehen. Natürlich hat sich vieles geändert", sagt Bernadette Nagy, die Touristen mit Elektro-Zügen von Mörbisch nach Fertörakos karrt, durchs frühere Niemandsland. Vorbei an Schilf gedeckten Höfen. An Weiden mit Rindern und langhaarigen Mangaliza-Schweinen, deren Salami besonders gut mundet. 20 Jahre nach dem Mauerfall ist die Grenzregion im besten Sinne des Wortes zusammengewachsen.
Früher galt das rückständige Burgenland als Ende der Welt. Die Zonenrandgebiet-Tristesse konnte einem mächtig aufs Gemüt schlagen. Heute sorgen Spitzenköche und junge Winzer mit preisgekrönten Rot- und Süßwein-Kreationen für echte Gaumen-Hochgefühle. Doch wer heute in der ungarisch-österreichischen Grenzzone nach Spuren des Eisernen Vorhangs sucht, findet wenig. Am Übergang zwischen Sopron und Sankt Margarethen sind Reste der früheren Sperranlage erhalten: Ein hoher Wachtturm, Stacheldraht und mehrere Gedenktafeln mit herzergreifenden Fotos erinnern an das Picknick auf der grünen Wiese; an die Ereignisse im Sommer 1989, die schließlich zum Mauerfall führten.
Gerahmte Kopie einer Ankündigung des paneuropäischen Picknicks mit einem Teil des Eisernen Vorhangs zwischen Österreich und Ungarn
Mehrere hundert DDR-Bürger durchbrachen das Grenztor
Ein Denkmal in Form einer geöffneten Tür symbolisiert den Weg in die Freiheit: "Die Tür hat nur eine Klinke - auf unserer Seite war keine. Und ich bin froh, dass andere sie für uns gedrückt haben", sagt der Leipziger Pfarrer Friedrich Magirus. Er besucht im Gedenkjahr zum ersten Mal die Stelle im Niemandsland, an der vor zwanzig Jahren ungarische Oppositionelle und einige Österreicher ein Zeichen für Frieden und Freiheit setzen wollten.
Doch das "Paneuropäische Picknick" eskaliert und wird zum Testfall von weltpolitischer Tragweite: Mehrere hundert DDR-Bürger nutzen die Chance, durchbrechen das Grenztor und rennen vor den Augen der ungarischen Grenzoffiziere in den Westen. Der Leipziger Pfarrer ist bis heute beeindruckt von soviel Courage: "Wo passe ich mich an, wo muss ich den Mut haben, auch mal gegen den Strom zu schwimmen. Das ist für mich eine wichtige Lehre aus der Zeit. Wir sind das Volk!"
Denkmal des ungarischen Bildhauers Miklos Melocco zur Erinnerung an das paneuropäische Picknick am 19. August 1989
Das "Paneuropäische Picknick" gilt heute als Meilenstein auf dem Weg zum Mauerfall. Der legendäre Ort, an dem einfache Bürger unglaublich mutig waren, ist heute eine Gedenkstätte, die auch einheimische Grenzgänger magisch anzieht. Ein Soldat des österreichischen Bundesheers, der früher entlang der Sperranlagen patrouillierte, erinnert sich: "Es sind ja schon vor dem Picknick immer wieder Ostdeutsche durchgesickert. Wenn ich im Wald beim Pilzesammeln einen gesehen habe, und er war mir sympathisch, hab ich gesagt: 'Sie sind schon in Österreich!'. Wenn mir der Flüchtling nicht gefallen hat, habe ich ihn auf Ungarisch angesprochen und er ist ganz blass geworden..."
Auch heute treffen sich Menschen zu einem Gedenk-Picknick
Heute gibt es kaum noch Verständigungsprobleme zwischen Ungarn und Österreichern. Ein Picknick als Auslöser für den Wandel. Nicht nur die Grenzregion hat es verändert, sondern ganz Europa. Bis heute kommen Menschen ins Niemandsland zwischen Sopron und Sankt Margarethen, um wie vor zwanzig Jahren im Geiste der Freiheit zu picknicken. Ein Pärchen aus Wien verzehrt Schnitzelbrote und stößt mit Champager auf die Grenzöffnung an: "Wir haben die Grenze noch als Eisernen Vorhang gekannt. Es ist einfach ein tolles Gefühl, ohne Pass über die Grenze zu fahren. Oder einfach nur hier zu sitzen und zu picknicken - Prost!"