Interview zur Zukunft der NATO ''Europa hat die Zeichen der Zeit verpasst''
Die NATO steht vor dem größten Umbruch seit ihrer Gründung vor 53 Jahren. Über die neue Rolle des transatlantischen Bündnisses sowie das Kräfteverhältnis zwischen Europäern und den USA sprach tagesschau.de sprach mit General a. D. Klaus Naumann, dem ehemaligen Vorsitzenden des Nato-Militärausschusses.
tagesschau.de: Was sagen sie zu dem Vorwurf, die Amerikaner würden die NATO mit neuen Mitgliedern so weit aufblähen, dass sie handlungsunfähig wird?
Klaus Naumann: Ich gehe schon davon aus, dass die Amerikaner ein Interesse daran haben dieses Instrument NATO zu erhalten. Weil früher oder später werden sie erkennen - trotz aller Erfolge, die sie in Afghanistan erzielt haben -, dass man die Krisen und Konflikte der Zukunft besser im multilateralen Verbund als im Alleingang bewältigt. Und wenn sie sich auf der Welt umsehen, wo sie Verbündete finden, die im Großen und Ganzen ihre Werte, ihre Weltanschauung, ihre Überzeugung teilen und zugleich auch als militärische Partner mehr oder weniger handlungsfähig sind, dann sind das nur die Europäer. Das heißt aber auch, dass die Europäer etwas tun müssen. So wie bisher kann es nicht weiter gehen.
tagesschau.de: US-Außenminister Colin Powell hat die Europäer aufgefordert, mehr Geld in die Rüstung zu stecken. Teilen Sie diese Forderung?
Naumann: Die Vorwürfe sind absolut berechtigt. Europa hat in großen Bereichen den Zug der Modernisierung der Streitkräfte schlicht verschlafen. Europa investiert in weiten Bereichen in falsche Streitkräfte, die man in Zukunft gar nicht mehr braucht. Stichwort: Mobilmachungsfähigkeit. Man braucht Kräfte, die den Schutz des NATO-Vertragsgebiets gegen alle möglichen Bedrohungen - insbesondere gegen Luftangriffe, Raketenangriffe und ähnliches - wahrnehmen können.
tagesschau.de: Aber die USA wollen offenbar das ehrgeizige Projekt einer EU-Armee verhindern. Ist eine schlagkräftige EU-Armee nicht die einzige Chance, die Interessen der Europäer in der NATO zu erhalten?
Naumann: Diese Truppe bis 2003 einsatzbereit zu machen, wird nicht erreicht werden. Und die Mängelanalyse ist die gleiche wie in der NATO. Es fehlen die entscheidenden Kapazitäten, die Voraussetzung sind, weitreichende Interventionen außerhalb des EU-Vertragsgebiets zu bewerkstelligen.
tagesschau.de: Es wird vielfach kritisiert, dass die Amerikaner die Europäer in vielen Entscheidungen übergehen. Wie sollen die Europäer reagieren bzw. sich wehren?
Naumann: Man muss begreifen, wenn man keine Fähigkeiten auf die Waagschale legt, dann wird man in Washington kein Einfluss haben. Deshalb muss man Fähigkeiten, wie zum Beispiel Aufklärung und Transport - so gut wie es innerhalb der gemeinsamen multinationalen europäischen Streitkräfte geht - auf die Waagschale werfen. Dann kann man mit einem begrenzten finanziellen Aufwand den politischen Einfluss in Washington maximieren. Was die Amerikaner sehen wollen ist ein Signal der Wende. Und das einzige Land, das für sich in Anspruch nehmen kann eine Ausnahme zu sein, ist Großbritannien. Alle anderen haben im Grunde genommen die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
tagesschau.de: Wo sehen Sie die NATO in 20 Jahren?
Naumann: Ich hoffe sehr, dass das Kernelement der NATO, der Verbund zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika, noch immer Bestand hat. Und Russland soll fest in diesen transatlantischen Verbund eingebunden sein.
Das Interview führte Judith Nafziger für tagesschau.de