Interview

ARD-Korrespondent zu Geiseldrama Desinformation in Moskau

Stand: 28.08.2007 09:17 Uhr

Wie schon so oft informierte der Kreml die Öffentlichkeit nach der Geiselbefreiung nur äußerst sparsam und schwieg sich zu vielen Details aus. Unter dem Informationsmangel leiden besonders die Angehörigen der Opfer, schildert ARD-Korrespondent Udo Lielischkies die Situation am zweiten Tag nach der Befreiung (28.10.2002).

tagesschau.de: Wird an der Linie von Russlands Präsident Wladimir Putin während der Geiselnahme Kritik geübt?

Udo Lielischkies: Putin selbst wird kaum kritisiert. Ich habe bislang nur vereinzelt Stimmen gehört, die sagen, Putin hätte auf die Forderungen eingehen müssen und die russischen Truppen aus Tschetschenien abziehen sollen. Von vielen Seiten wird ihm attestiert, er habe keine andere Möglichkeit gehabt. Es habe in dieser Situation keine Handlungsoptionen gegeben, glauben die meisten Experten.  

Allerdings richten sich viele Fragen an die direkt Verantwortlichen des Einsatz-Ablaufs. Ein Vorwurf ist, dass das Gas offenbar überdosiert wurde. Es sieht so aus, als habe man die Menge des Gases für gesunde junge Menschen berechnet und nicht bedacht, dass viele Schwache, Kranke und Kinder unter den Geiseln waren.

Weiterhin spekulieren Moskauer Zeitungen, dass zwar die Einsatztruppe "Alpha" des Geheimdienstes FSB über das Gas Bescheid wusste und offenbar schon vorher ein entsprechendes Gegengift bekommen hatte. Ein später in das Gebäude eindringendes Sonder-Einsatzkommando des Innenministeriums sei jedoch nicht informiert gewesen und sei ebenso wie die Geiseln durch das Gas verletzt worden.   

tagesschau.de: Das heißt also, dass zumindest ein enger Kreis über die Art des verwendeten Gases informiert wurde?

Udo Lielischkies: Davon wird hier fest ausgegangen. Zumindest die Alpha-Leute hätten Bescheid gewusst, ist hier die Meinung. Moskauer Toxikologen und Ärzte kritisieren, dass den Geiseln unmittelbar nach der Befreiung ein Gegengift hätte gespritzt werden müssen. Wenigstens hätten die Krankenhäuser informiert werden müssen, aber auch das ist offensichtlich nicht geschehen. Viele Ärzte waren offenbar ratlos. Sie wussten nicht, wie sie die Geiseln behandeln sollten.

Es gibt zwei Theorien: Zum einen wird vermutet, dass ein normales Narkosegas benutzt worden sei, Lachgas zum Beispiel. Experten für Kampfstoffe widersprechen dieser Theorie. Niemals hätte in so kurzer Zeit eine so hohe Gas-Konzentration in dem Gebäude erreicht werden können, ist das Gegenargument. Kampfstoff-Experten vermuten also eher, dass ein chemischer Kampfstoff eingesetzt worden sein könnte, etwa ein Gas, desen Einsatz seit Jahren durch internationale Verträge verboten ist wie etwa "BZ". Die Amerikaner haben schon vor vielen Jahren aufgehört, BZ weiter zu erforschen, weil dessen Auswirkungen völlig unberechenbar sind. Die Kampfmittel-Theorie würde auch erklären, warum die Russen jetzt so verschwiegen sind. 

tagesschau.de:  Haben denn mittlerweile wenigstens die Angehörigen Zugang zu den Vergifteten in den Krankenhäusern?

Udo Lielischkies: Das ist nach wie vor nicht der Fall. Noch immer gibt es zahlreiche Angehörige, die nicht zu ihren Verwandten gelassen werden. Sie wissen noch nicht einmal, wo sich ihre verletzten Familienmitglieder befinden, geschweige denn, ob sie noch am Leben sind. Die Angehörigen sind verbittert: Einer beschrieb seine Situation folgendermaßen: Während der Geiselnahme habe er wenigstens gewusst, wo sich die Opfer befinden und dass sie noch lebten. Jetzt hingegen sei noch nicht einmal das sicher.

Das Gespräch führte Susanne Ofterdinger, tagesschau.de