ARD-Korrespondentin zu Geiseldrama "Der Krieg hat den Terror produziert"
Bereits im ersten Tschetschenien-Krieg sind Frauen bewaffnet in den Kampf gezogen. Dass auch in Moskau Geiselnehmerinnen aktiv sind, könnte auf die traditionelle Clan-Gesellschaft in Tschetschenien zurückzuführen sein, analysiert die langjährige Russland-Korrespondentin der ARD, Sonia Mikich, die Situation. Beängstigend findet sie allerdings, dass sich die Terroristinnen im islamischen Tschador zeigen. Dies könne für einen zunehmenden Einfluss islamistischer Kräfte in Tschetschenien sprechen.
tagesschau.de: Zum ersten Mal sind in diesem Krieg Frauen aktiv in Terrorakte verwickelt. Passiert das freiwillig, oder werden die Frauen, die in Moskau als Geiselnehmerinnen fungieren, instrumentalisiert?
Sonia Mikich: Frauen haben schon vorher eine Rolle im Tschetschenien-Widerstand gespielt. Und zwar einerseits als einfache Unterstützerinnen. Sie haben ihre Männer bekleidet, ernährt und versteckt, Botendienste geleistet usw. Zum anderen gab es im ersten Krieg gegen Russland Frauen, die mit der Waffe in den Kampf gezogen sind. Wichtig waren auch die vielen Frauen, die als Journalistinnen über Menschenrechtsverletzungen, Kampfhandlungen etc. berichtet haben - unter Einsatz ihres Lebens.
Frauen spielen in der traditionellen Clangesellschaft Tschetscheniens durchaus eine starke Rolle: Sie sind nicht die geduckten Wesen, die man sich vielleicht so vorstellt. Viele haben studiert, sind städtisch orientiert, gehen aus, kleiden sich westlich. Andere - die Mehrheit - sind die mütterlichen Hüterinnen des Hofs. Nach wie vor ist die Rollenverteilung aber durchweg konservativ. Unvorstellbar, alleine zu leben und etwa nicht heiraten oder kinderlos bleiben zu wollen. Familienbande sind heilig.
Was nun die Geiselnehmerinnen von Moskau betrifft - da kann ich nur spekulieren: Möglicherweise wollen diese Frauen die Toten in ihrer Familie rächen und greifen zur Waffe. Es scheint mir in der Clan-Tradition der Tschetschenen zu stehen.
tagesschau.de: Warum diese Tarnung der Frauen? Warum präsentieren sie sich vermummt vor der Kamera?
Sonia Mikich: Das macht mich misstrauisch. Ich finde es untypisch und auch sehr beängstigend, dass sie sich im islamischen Tschador gezeigt haben. So habe ich tschetschenische Frauen nicht kennengelernt.
tagesschau.de: Das würde also dafür sprechen, dass es in Tschetschenien eine zunehmende Islamisierung gibt?
Sonia Mikich: Man muss einfach festhalten, dass es in Tschetschenien vor dem Krieg einen oberflächlichen Volks-Islam gab. Frauen und Männer waren relativ gleichberechtigt, wenngleich die Kultur bäuerlich-patriarchalisch ist. Auf keinen Fall sah ich verschleierte Frauen. Mit dem Krieg wurde aber der Islam immer stärker zu einem einenden Band gegen das christliche Russland. Die Menschen besannen sich stärker auf den Islam. Man muss betonen, leider, dass nach dem ersten Krieg, als Tschetschenien demokratische Wahlen hatte und vor einem schwierigen Wiederaufbau stand, der Westen das Land einfach vergass. In der kurzen Friedenszeit pumpten arabische Gruppen einfach Geld ins Land. Sie waren die einzigen "Helfer" und sie importierten ihre Vorstellungen von Religion gleich mit. Es ist längst klar, dass es arabische Söldner gab und arabisches Geld gab und gibt. Und einige Quellen waren fundamentalistisch, so dass es mich nicht wundern würde, wenn auch die Moskauer Gruppe solche Kontakte hätte.
tagesschau.de: Das heißt also, es ist wahrscheinlich, dass solche Situationen wie in Moskau wieder entstehen?
Sonia Mikich: Das Wahrscheinliche ist, dass der Krieg ewig weitergeht, einschließlich Menschenrechtsverletzungen, Terroraktionen und unendlich viel Elend für Zivilisten. Es sei denn, der Westen hilft, einen politischen Dialog einzuleiten. Die OSZE hat im ersten Krieg eine gute Rolle gespielt, es wäre an der Zeit, dass sich Europa im zweiten wieder einmischt. Es ist so, wie die Menschenrechtler von "Memorial" gesagt haben: "Es war nicht so, dass der Terror den Krieg produziert hat, sondern der Krieg hat den Terror produziert.
Die Fragen stellte Susanne Ofterdinger, tagesschau.de