EU-Gipfeltreffen in Brüssel Verfassung wird Chefsache
Strategiespiele in Brüssel: Die anstehende Erweiterung ist für EU-Kommissionpräsident Barroso der Hauptgrund eine schnelle Lösung in der Verfassungsfrage zu finden. Bei einem zweitägigen Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel soll das Thema vorangetrieben werden.
Von Ulrike Bosse, NDR-Hörfunkkorrespondentin in Brüssel
Das strategische Vorgehen des EU-Ratsvorsitzenden zeigt, wie heikel das Thema ist: Der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ließ die möglichen Gipfelbeschlüsse zur EU-Verfassung nicht wie sonst üblich von den EU-Botschaftern vorklären und von den EU-Außenministern billigen, sondern er wird sie erst den Chefs selbst präsentieren.
Zu groß schien die Gefahr, dass schon im Vorfeld des Gipfeltreffens in Brüssel wieder Streit aufflammt und alles zerredet wird – und das, obwohl es keine inhaltlichen Festlegungen zur Verfassung geben wird. Schüssel äußerte sich dazu so: „Sie können nicht die Welt in sechs Monaten ändern – und schoStran gar nicht die europäische Welt. Das sollte jeder wissen."
Nachdenkphase soll verlängert werden
Man wird in Brüssel also die Phase des Nachdenkens über die Verfassung verlängern. Über einen konkreten Fahrplan zur Lösung der Probleme könnte man sich nächstes Jahr verständigen, wenn es in den Staaten mit den negativen Verfassungsreferenden, in Frankreich und den Niederlanden, Neuwahlen gegeben hat.
Deutschland hat dann den EU-Ratsvorsitz inne und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits angekündigt, ihre Kollegen im Frühjahr zu einem Sondergipfel zur Verfassungsfrage nach Berlin einzuladen: "Ich glaube, was den politischen Zeitplan anbelangt ist jetzt vor allem Klugheit gefragt." Klugheit, so Merkel, hieße in diesem Fall, niemanden zu überfordern und den Prozess trotzdem voranzubringen. Deshalb solle man die Phase des Nachdenkens bis in die Zeit des deutschen Ratsvorsitzes ausdehnen. Wichtig sei aber auch, weiter klar zu machen, dass "wir einen solchen Verfassungsvertrag brauchen."
Juncker: EU auch ohne Großbritannien vorstellbar
Der Luxemburgische Premierminister Jean Claude Juncker äußerte sich in einem Interview unmittelbar vor Gipfelbeginn weniger diplomatisch. Frankreich und die Niederlande hätten nach den negativen Referenden eine Bringschuld für Vorschläge, mit denen die anderen EU-Staaten leben könnten, sagte Juncker. Und über das entschieden verfassungskritische Großbritannien sagte er, es sei vorstellbar die EU auch ohne die Briten fortzuführen, wenn sie die Verfassung ablehnen sollten – auch wenn er sich das nicht wünsche.
Auf die enge Verknüpfung der Verfassungsfrage mit dem zweiten großen Gipfelthema, der Erweiterung der EU, verwies EU-Kommissionpräsident Jose Manuel Barroso: "Einer der Gründe, wenn nicht der Hauptgrund, dass wir eine Lösung der Verfassungsfrage brauchen, ist die weitere Erweiterung." Es werde immer klarer, so Barroso, "dass es keinen Sinn macht in einer EU mit 27,28 oder 30 Mitgliedern mit den Regeln des geltenden Nizza-Vertrags zu arbeiten."
Debatte über weitere Aufnahmefähigkeit der EU
Ob und unter welchen Voraussetzungen die EU-Erweiterung überhaupt fortschreiten soll, darüber sind sich die EU-Staaten ebenfalls nicht einig. Im Mittelpunkt der Diskussion der Staats- und Regierungschefs heute abend wird deshalb die Aufnahmefähigkeit der EU für weitere Staaten stehen – und die Frage, ob man dieses Kriterium künftig genau definieren muss und kann. Der französische Staatspräsident Jaques Chirac fordert hier eine genaue Festlegung – nicht nur sein britischer Kollege Toni Blair lehnt dies entschieden ab.