Interview

Interview "Polizei betrachtet uns eher als Gegner"

Stand: 24.06.2010 13:59 Uhr

Seit fast sechs Jahren gibt es in Brüssel die Hilfsorganisation für vermisste und sexuell misshandelte Kinder „Child Focus". Gegründet hat sie Jean-Denis Lejeune, Vater der von Marc Dutroux 1995 entführten und in einem Kellerverlies verhungerten achtjährigen Julie. Die unabhängige Organisation hat bisher das Schicksal tausender verschwundener Kinder ermittelt. Tagesschau.de sprach mit Lejeune in seinem Brüsseler Büro.

tagesschau.de: Wieso haben Sie Child Focus gegründet?

Jean-Denis Lejeune: Als Julie und Melissa verschwunden sind, hatten wir als Eltern wenig Unterstützung von den zuständigen Behörden. Die Mädchen sind an einem Samstag verschwunden und da gab es bei der Polizei weniger Personal als unter der Woche. Es wäre eigentlich das Beste gewesen, wenn die Polizei schleunigst alle Informationen über das Verschwinden der Mädchen herausgegeben hätte, um so Zeugen zu finden. Doch das ist nicht geschehen. Wir haben uns deshalb an eine kleine Organisation gewandt, die es heute nicht mehr gibt. Diese Organisation beschäftigte sich mit vermissten Kindern. Unglücklicherweise hatten sie zu wenig Papier, um Plakate von Bildern der Mädchen zu machen. Wir mussten dann Samstag Abends Druckereien suchen, die uns Papier geben konnten, um Plakate herstellen zu können. Wir haben dann später mit den Plakaten weitergemacht, weil es einfach das beste Mittel ist. Das Geld dafür haben wir selbst aufgebracht.

tagesschau.de: Wie viele Anfragen von Eltern und Kindern bekommen Sie heute?

Lejeune: Rund 2500 Fällen geht die Organisation im Durchschnitt jedes Jahr nach. Dazu zählen Ausreißer, Entführung durch ein Elternteil, Entführung durch Dritte und sexueller Missbrauch.

tagesschau.de: Was sind die häufigsten Probleme?

Lejeune: Die Ausreißer. Die machen 50 Prozent der Fälle aus.

tagesschau.de: Was tun Sie , wenn ein Kind vermisst gemeldet wird?

Lejeune: Wir haben eine sehr gut strukturierte Organisation. Über eine Notfall-Nummer sind wir gratis rund um die Uhr zu erreichen. Man kann dort auch über Probleme sprechen, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Zusätzlich haben wir eine Mannschaft von Vertrauensleuten die Kontakt zu den Familien, der Polizei und den Behörden halten. Wir haben über 1600 ehrenamtliche Mitarbeiter in ganz Belgien. Und wenn ein Kind vermisst wird, dann sind es diese ehrenamtlichen Mitarbeiter, die überall im Land Plakate kleben. Wir halten natürlich auch einen sehr engen Kontakt zur Presse.

tagesschau.de: Was steckt hinter dem Verschwinden der Kinder?

Lejeune: Es gibt die Entführungen durch Eltern, durch Dritte, die auch zur Familie gehören können und Entführungen, die einen kriminellen Hintergrund haben.

tagesschau.de: Wie häufig steckt ein Gewaltverbrechen hinter dem Verschwinden der Kinder?

Lejeune: Glücklicherweise nicht oft. Es gibt diese Entführungen, aber längst nicht so häufig, wie man denkt.

tagesschau.de: Tun die belgischen Behörden mittlerweile genug, um die Fälle aufzuklären?

Lejeune: Leider ist man sich dieses Problems erst 1996 bewusst geworden. Da haben die Behörden erkannt, dass sich die Polizei, die Richter und die Staatsanwälte ernsthaft damit auseinandersetzen müssen. Heute gibt es Richter, die besser ausgebildet sind, was das Verschwinden von Kindern betrifft. Das gleiche gilt auch für Polizisten. Leider gibt es noch immer bei den Behörden unterschiedliche Arbeitsweisen. Auch das Zusammenspiel zwischen Child Focus und der Polizei ist noch nicht perfekt.

tagesschau.de: Sie sind also nicht zufrieden mit der Zusammenarbeit?

Lejeune: Nein, ich persönlich bin nicht zufrieden damit. Wir könnten oft eine Hilfe für die Polizei sein. Aber sie betrachtet uns eher als Gegner. Sie hat Schwierigkeiten, unsere Hinweise in ihre Ermittlungen mit einzubeziehen. Ich glaube, es liegt daran, dass wir eine private Organisation sind.

tagesschau.de: Was müssten die Behörden tun, damit die Zusammenarbeit besser klappt?

Lejeune: Es gibt ein Protokoll, in dem Child Focus und die richterlichen Behörden ihre Zusammenarbeit festgelegt haben. Darin sind die einzelnen Aufgaben beschrieben. Leider haben nicht alle Beamte oder Behörden, die sich mit vermissten Kindern beschäftigen, davon Kenntnis. Das müsste geändert werden.

tagesschau.de: Könnte Child Focus heute einen Fall Dutroux verhindern?

Lejeune: Es gibt niemanden, der so etwas verhindern kann. Keine Organisation, noch die beste Polizei hätte die Tat voraussehen können. Eine Organisation wie die unsere hätte aber schneller reagiert. Wir wären natürlich auch eine Hilfe für die betroffenen Familien gewesen.

Das Interview führte Gabriele Feil