Kolonialverbrechen im Kongo Belgien ringt mit seiner Vergangenheit
60 Jahre nach Ende der Kolonialherrschaft im Kongo hat der belgische König sein Bedauern über die Gräueltaten ausgedrückt. Doch die Aufarbeitung der blutigen Geschichte steht erst am Anfang. Von Alexander Göbel.
60 Jahre nach Ende der Kolonialherrschaft im Kongo hat der belgische König sein Bedauern über die Gräueltaten ausgedrückt. Doch die Aufarbeitung einer blutigen Geschichte steht erst am Anfang.
Vor dem Königspalast in Brüssel sitzt Belgiens ehemaliger König Leopold II. (1835-1909) noch hoch zu Ross, in Bronze gegossen. Der 14-jährige Noah blickt wie gebannt auf die riesige Statue, die an den Mann erinnert, der nie selbst im Kongo war, aber ab Ende des 19. Jahrhunderts den sogenannten Kongo-Freistaat ausbeuten und mit unvorstellbaren Gräueln überziehen ließ, um seine Untertanen zur Lieferung von immer mehr Kautschuk und Elfenbein zu zwingen.
König Leopold II. beutete das Volk aus
König Leopold II. hat mehr als zehn Millionen Menschen auf dem Gewissen. Er hat Untertanen nicht nur Hände abhacken lassen. Unter seinem Regime wurden auch Babys Arme abgerissen, Dörfer angezündet, geraubt und geplündert: Alles, damit er sich persönlich bereichern konnte.
Zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit des Kongos von Belgien hat König Philippe in einem historischen Schritt zum ersten Mal sein "tiefes Bedauern" für die Gräueltaten vor und während der Kolonialzeit ausgedrückt. "Unsere Geschichte besteht aus gemeinsamen Errungenschaften, aber sie hat auch schmerzhafte Episoden erlebt. Zur Zeit des unabhängigen Staates Kongo wurden Gewalttaten und Grausamkeiten begangen, die noch immer auf unserem kollektiven Gedächtnis lasten", heißt es in einem Brief. Stunden nach dessen Veröffentlichung wurde in der Stadt Gent unter Applaus des Publikums eine Büste des ehemaligen Kolonialherren entfernt.
"Statuen, die ihn zeigen, sind respektlos - gegenüber den Toten und ihren Nachfahren. Ich finde, dieser Mann sollte für seine Taten nicht auch noch geehrt werden", sagt der Junge, der vor dem Königspalast in Brüssel steht. Noah ist als Sohn kongolesischer Eltern in Belgien geboren. Der Tod von George Floyd, die Bewegung "Black Lives Matter" in den USA - all das hat auch ihn inspiriert: nämlich, alles über Belgiens Kolonialzeit zu lesen.
Symbole für das blutige Trauma
Daraufhin hat der Schüler eine Petition gestartet. Seine Forderung: "Die Reiterstatue muss weg, und auch viele weitere Denkmäler und Straßenschilder, die in ganz Belgien Leopold II. und anderen kolonialen Profiteuren gewidmet sind."
"Pardon", also "Entschuldigung", steht auf der Brust des früheren Königs Leopold II.
Auch Gia Abrassart, die belgisch-kongolesische Leiterin des Kulturzentrums Café Congo in Anderlecht, hält es für überfällig, dass solche Statuen verschwinden. Denn: Sie seien Marmor und Bronze gewordene Symbole für das große, blutige Trauma.
An der Reiterstatue in Brüssel ist eine Tafel angebracht. Darauf steht, dass die Minen-Union "Union Minière du Haut Katanga" dem Königreich Belgien das Material geschenkt hat. Kupfer und Zinn - der Beweis für Ausbeutung und Zwangsarbeit der lokalen Bevölkerung im Kongo.
Aus der Minen-Union ist inzwischen der belgische Metallkonzern Umicore geworden, und der wiederum ist einer der Hauptsponsoren des königlichen Afrika-Museums in Tervuren, am Rande von Brüssel. Kritiker sagen, dass in ihm der koloniale Geist bis heute weiterlebt.
So viele Menschen haben sich am Kongo bereichert. Doch was ist mit finanzieller Entschädigung?
Eine Statue von König Leopold II wurde bei Protesten der "Black Lives Matters" Bewegung mit Zement und Graffiti beschmiert.
Belgien muss für all die Verbrechen zur Kasse gebeten werden, früher oder später", sagt Gia Abrassart, Leiterin des Kulturzentrums.
Abrassart geht es jedoch nicht nur ums Geld, sondern um Gerechtigkeit. Um tiefgreifende Aufarbeitung. Die von Belgiens Regierung beschlossene Wahrheits- und Versöhnungskommission sei dafür ein gutes Signal, findet die Kulturaktivistin. Sie wünscht sich, dass eine solche Kommission auch entsprechend divers besetzt wird.
Die koloniale Vergangenheit dürfe nicht länger versteckt und verfälscht werden, sondern müsse sich zum Beispiel endlich in belgischen Schulbüchern wiederfinden - und zwar schonungslos. Gia Abrassartm sagt: "Was wir brauchen, ist nichts weniger als eine kollektive und generationenübergreifende Erinnerungstherapie. Denken Sie an eine Familienaufstellung - nur, dass die Familie hier ganz Belgien ist, das sich seiner kolonialen Vergangenheit stellen muss", sagt Abrassart.
Petition zum 60. Tag der Unabhängigkeit
In dieser komplizierten „Familie“ sind es bislang vor allem Menschen wie der kleine Noah, die den Anfang machen - mit einem lauten "Nein" zu den verhassten Leopold-Statuen. Mehr als 80.000 Menschen haben Noahs Antrag unterschrieben - zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit des Kongo will er sie an die belgische Regierung übergeben.
Noahs Mutter ist sehr stolz: "Noah hat etwas Wichtiges angestoßen. Er ist sich seiner Wurzeln bewusst. Wir kommen aus dem Kongo, unsere Hautfarbe ist schwarz, Rassismus ist unser Alltag, und diese Statuen repräsentieren uns nicht. Mit seiner Aktion hat mein Sohn ein mutiges Zeichen der Hoffnung gesetzt. Wenn er mit 14 so weit denken kann, gibt es für niemanden einen Vorwand, das nicht auch zu tun."