Jahresrückblick auf die EU Zum Reagieren gezwungen
Trump, Ukraine, Brexit - die EU war 2018 vor allem mit Konflikten außerhalb beschäftigt. Dabei fehlt laut Experten dringend ein Projekt, dass die Europäer wieder eint.
Wer in diesen Tagen EU-Verantwortlichen begegnet, der trifft vor allem hin- und hergerissene Menschen. Einer von ihnen ist Elmar Brok (CDU), führender Europaparlamentarier seit 1979. "Wenn mir das einer vor drei bis vier Jahren gesagt hätte, hätte ich geantwortet: 'Das halte ich nicht für möglich!' Aber wir haben es zustande gebracht!" Gemeint ist der Brexit, der Ausstiegsprozess Großbritanniens aus der EU, an dessen Ende ein vollkommen zerstrittenes Vereinigtes Königreich steht und eine geeint auftretende Europäische Union.
Andererseits, um wieder auf das Hin- und Hergerissensein zurückzukommen, hat die EU im Jahr 2018 jenseits der Brexit-Verhandlungen nicht so wahnsinnig viel auf die Habenseite gebracht: Okay, man konnte sich auf eine "Anti-Plastik-Strategie" verständigen, auch auf ehrgeizige neue Abgasregeln für Autos, aber schon bei der eigentlich recht einfachen Frage nach einem Ende der Zeitumstellung, fuhr man das Projekt mit Karacho vor die Wand.
Am Ende des Brexits steht ein zerstrittenes Vereinigtes Königreich - und eine geeint auftretende EU.
Getrieben von der Weltpolitik
2018 war für die EU vor allem ein Jahr des Reagierens, etwa auf US-Präsident Trumps teils merkwürdig anmutende Strategien oder auf Russlands Zündeleien in der Ukraine. Zum Agieren dagegen kam die EU 2018 kaum. "Ich glaube, das Hauptproblem ist, dass ein größeres, gemeinsames Projekt fehlt", resümiert der Historiker Kiran Klaus Patel von der Universität Maastricht. "Ein Projekt, das wiederum so viel Zugkraft hat, dass sich die Regierungen, aber auch die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten, dahinter versammeln und sich dafür begeistern können."
"Keine deutsche Antwort auf Macron"
Denn dass es mindestens einen gab, der sich gleich für eine ganze Reformagenda begeistern konnte und kann, ist hinlänglich bekannt: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. "Das Problem ist, dass in der Zeit, in der Kanzlerin Angela Merkel wirklich noch fest im Sattel saß und noch den CDU-Parteivorsitz hatte, dass in dieser Zeit von der deutschen Seite keine Antwort auf Macron erfolgte, auf deren Grundlage man ernsthaft hätte diskutieren können", sagt Patel. "Das Zeitfenster dafür hat sich jetzt geschlossen."
Patel, einer der renommiertesten Historiker im Bereich der europäischen Geschichte, erwartet für 2019 kaum noch epochale Schritte. Macron ist nach den Protesten der letzten Wochen endgültig in der französischen Innenpolitik gefangen, die EU hat noch mit dem Brexit zu tun, dann folgen im Mai die Europawahlen und die vermutlich quälende Suche nach einer neuen europäischen Regierung, sprich EU-Kommission.
"Ich glaube, dass wir uns heute die Frage stellen müssen, was wir eigentlich mit den Verliererinnen und Verlierern der digitalen Revolution machen", so Patel. "Für diese Menschen hat die EU derzeit kein Angebot. Das zeigt sich im Moment auch in den Unruhen in vielen europäischen Gesellschaften und der Unzufriedenheit darüber, was die EU darstellt."
EU-Veteran trotz allem optimistisch
So negativ würde es EU-Veteran Brok natürlich nie formulieren. Aber auch der Europaparlamentarier aus Überzeugung weiß nach fast 40 Jahren, dass der Lack an manchen Stellen durchaus spröde und rissig geworden ist. Es reiche derzeit ein Blick über die Grenzen, bestätigt er.
"Was in Frankreich passiert ist, ist ein vorrevolutionärer Zustand, der nur begrenzt mit Europa zu tun hat. Die Frage ist: Wie gehen moderne Gesellschaften mit den Konsequenzen der Globalisierung um? Damit, dass ganze Gesellschaftssysteme zusammenbrechen? Das ist doch die große Gefahr für westliche Demokratien." Und auf die gelte es möglichst bald eine Antwort zu finden, hofft Brok.