Erwartete Bodenoffensive Welche Ziele hat Israel in Gaza?
Israels angekündigte Bodenoffensive auf Hamas-Terroristen im Gazastreifen hat bislang nicht begonnen. Der Grund: Die Regierung steht vor etlichen schwierigen Entscheidungen.
Als die israelische Armee am 12. Oktober die Bewohner im nördlichen Teil des Gazastreifens zur Flucht aufforderte, schien eine Bodenoffensive unmittelbar bevorzustehen. Einen Tag sollten die 1,1 Millionen Menschen Zeit haben, sich im Süden in Sicherheit zu bringen. Die Frist wurde mehrmals verlängert. Aber zu einer Offensive, einem Gegenangriff mit israelischen Panzern und Soldaten, ist es bisher nicht gekommen. Im Gazastreifen warten mehr als zwei Millionen Menschen, wie sich die Lage entwickelt. Jenseits der Sperranlagen stehen Hunderttausende israelische Soldaten und erwarten den Einsatzbefehl.
Große Ausbrüche von militärischer Gewalt gab es zwischen Israel und den bewaffneten Gruppen in dem Palästinensergebiet immer wieder. Zehn Tage nach Beginn des Gaza-Kriegs 2014 startete die israelische Armee damals eine Militäroperation. Erklärtes Ziel war es, vor allem das Tunnelsystem der Hamas-Terroristen zu zerstören. Jetzt, neun Jahre später, nennt die israelische Regierung vier Ziele: 1. Die Hamas und ihre militärischen Fähigkeiten sollen zerstört werden. 2. Terrorangriffe aus dem Gazastreifen heraus sollen unmöglich gemacht werden. 3. Die Regierung will alles unternehmen, um die Geiseln zu befreien. 4. Die Grenzen Israels und die Bewohner sollen dauerhaft sicher sein vor Angriffen.
Ein Dilemma für das Militär
Die Hamas zu zerstören, soll nach Einschätzung der israelischen Politikwissenschaftlerin Mairav Zonszein von der "International Crisis Group" nicht nur heißen, die Anführer der Organisation zu töten, sondern alle ihre Mitglieder. Offiziell bleibt es offen, ob die israelische Regierung nur den militärischen Arm beseitigen will oder auch die Hamas als politische Organisation.
Das zweite Ziel lässt sich konkreter beschreiben: Geplant ist, das Waffenarsenal der Hamas zu zerstören, ebenso wie die Gebäude, in denen sie Raketen herstellen lässt.
Unklar ist aber, wie gut die israelischen Geheimdienste diese möglichen Ziele auskundschaften kann: Ihre Lokalisierung ist schwierig, da Israel derzeit nur per Drohnenbeobachtung im Gazastreifen aufklären kann.
Sollte es zu einer Bodenoffensive kommen, hätten die israelischen Soldaten zumindest die Möglichkeit, Teile des weitverzweigten Tunnelsystems auszumachen und zu sprengen. Allerdings könnten viele der israelischen Geiseln genau dort, unterirdisch, versteckt sein. Ein Dilemma für das Militär.
Angst vor Sprengfallen und Minen
Es ist außerdem unklar, wie genau die Offensive aussehen würde. Denkbar ist der Einsatz von kleineren Kommando-Einheiten, unterstützt von Angriffen aus der Luft oder die Entsendung von Panzern und Infanterie-Einheiten nach Gaza. In beiden Szenarien muss Israel befürchten, eine große Zahl von Soldaten zu verlieren.
Schließlich hatten Hamas und andere bewaffnete Gruppen ausreichend Zeit, sich vorzubereiten. Die israelischen Soldaten müssen mit vermintem Gelände rechnen, mit Sprengfallen und Angriffen aus dem Tunnelsystem heraus und von höheren Gebäuden. Ein solcher Einsatz könne Wochen oder Monate dauern, vielleicht auch länger, sagen Analysten.
Ein wichtiger Faktor ist zudem die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza. Die aus dem Nordteil geflohenen Menschen können nicht über längere Zeit in den Städten Rafah oder Chan Junis im Süden bleiben - ohne ein Dach über dem Kopf. Auch US-Präsident Joe Biden hatte Israel zuletzt auf den gebotenen Schutz der Zivilbevölkerung gedrängt.
Wie kann Gazas Zukunft aussehen?
Hinter verschlossenen Türen stellt Biden wohl aber auch strategische Fragen. Die "New York Times" schreibt mit Verweis auf Quellen aus dem Weißen Haus, Biden sei besorgt, ob die genannten Ziele Israels überhaupt zu erreichen seien. An welchem Punkt also könnte Israels Regierung von einem Erfolg einer Bodenoffensive sprechen und den Einsatz beenden? Und: Sollte die Hamas führungslos oder "vernichtet" sein, wer würde dann in Gaza regieren? Denn eine neuerliche Besatzung will Israel in keinem Fall. Die war militärisch nicht zu halten und der Rückzug 2005 war schwierig genug.
Könnten also die Fatah und Palästinenserpräsident Abbas in Ramallah im Westjordanland übernehmen? Sie erscheinen so schwach, dass ihnen kaum jemand zutraut, sich in Gaza durchzusetzen - abgesehen davon, dass das wohl nicht im Interesse Israels wäre. Auch die Verwaltung etwa durch die Vereinten Nationen scheide aus israelischer Sicht aus, sagt Robert Blecher vom Thinktank "International Crisis Group": Israel habe sich in Sicherheitsfragen schließlich noch nie auf fremde Hilfe verlassen.
Blecher kommt zum Schluss, dass Israel es wohl auch nach diesem Krieg in irgendeiner Form mit der Hamas in Gaza zu tun hat, das Ziel einer "Vernichtung der Hamas" also auch aus politischen Überlegungen heraus nicht realistisch sein könne. Damit wird deutlich: In Israel steht die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vor schwierigen Entscheidungen. Die Familien der Verschleppten fordern, deren Freilassung zu erreichen. Gleichzeitig ist der Ruf laut nach Rache, Vergeltung, nach einem harten Gegenschlag. Sicher ist nur, dass es weitere Todesopfer geben wird - im Gazastreifen und auch auf Seiten Israels.