Interview

Interview zu Anschlägen in Moskau "Der Terror muss politisch eingedämmt werden"

Stand: 25.01.2011 13:59 Uhr

Der Terror hat Moskau erreicht - schon wieder. Die russischen Ermittler vermuten die Hintermänner im Nordkaukasus. "Die Russen haben es nicht geschafft, den Kaukasus politisch zu stabilieren", sagt Russland-Experte Alexander Rahr im Gespräch mit tagesschau.de. Aber am Terror aus dem Nordkaukasus seien sie nicht allein schuld.

tagesschau.de: Herr Rahr, warum kann Russland im Kaukasus nicht für Ruhe sorgen?

Alexander Rahr: Es gibt im ganzen Nordkaukasus inzwischen eine Front radikaler Extremisten und Fundamentalisten, die ein islamistisches Terrornetz bilden. Es richtet sich gegen Russland, aber auch über die Grenzen Russlands hinaus. Es geht also nicht mehr um Unabhängigkeit, wie damals in Tschetschenien, sondern um den Aufbau eines Kalifats.

Zur Person
Alexander Rahr ist Leiter des Kompetenzzentrums für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien bei der Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin und Mitglied des Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs. Er hat zahlreiche Publikationen über Russland veröffentlicht.

tagesschau.de: Wo sitzen diese Terrorzellen?

Rahr: Die sind in den einzelnen Republiken verteilt. Das Hauptquartier dieser islamistischen Terrorbewegung ist in Dagestan. Dort gibt es ganze Landstriche, die von den Russen nicht kontrolliert werden. Übrigens: Terroranschläge gibt es in Dagestan fast jede Woche - es berichtet aber kaum jemand drüber.

tagesschau.de: Vor 20 Jahren gab es keinen militanten Islamismus im Nordkaukasus. Inzwischen bedroht er die Macht Russlands. Welche Rolle spielt die Politik der russischen Regierung?

Rahr: Der Islamismus ist eine Ursache des Zerfalls der Sowjetunion. Danach brachen alle jahrelang gedeckelten Konflikte aus. Aber damit erklärt sich dieser Terror nicht.

tageschau.de: Womit dann?

Rahr: Er hat seine Wurzeln auch im Tschetschenien-Krieg. Aber: Der 11. September 2001 hat die Welt verändert. Er hat gezeigt: Der Terror kann auch die USA ins Mark treffen - nicht nur das schwache Russland. Wir müssen den Terror global sehen.

Clans haben die Macht

tagesschau.de: Wladimir Putin hat in seiner Präsidentschaft auf den Terror aus dem Kaukasus mit brutaler Rhetorik und Härte reagiert. Amtsnachfolger Dimitri Medwedjew schlug bislang sanftere Töne an. Auch finanzielle Aufbauhilfe wurde geleistet...

Rahr: Die Russen haben es bis heute nicht geschafft, den Nordkaukasus politisch zu stabilisieren. Sie sind abgezogen und haben die Macht den dortigen Clans überlassen. Sie haben versucht, nicht eigene Funktionäre einzusetzen, sondern auf regionale Machthaber zu setzen. Russland hat wirklich viel versucht. Der Terrorismus kommt von unten.

tagesschau.de: Sie sehen also keinen Unterschied zwischen der Politik Putins und der Politik von Medwedjew in Sachen Kaukasus?

Rahr: Nein. Sie wollen doch beide das Gleiche. Beide versuchen, dort für Ordnung zu sorgen und das Terrornetzwerk zu zerschlagen. Aber das misslingt aufgrund der furchtbaren Korruption. Es fehlt im Kaukasus vor allem an der Kontrolle über Staatsgelder. Es fehlt aber auch der Dialog zwischen den Gesellschaften.

tagesschau.de: Sie spielen auf den zunehmenden Hass zwischen Russen und Kaukasiern an?

Rahr: Ja. Erst im Dezember starb ein junger Mann bei Ausschreitungen zwischen russischen Nationalisten und Kaukasiern in Moskau. Der Fremdenhass in Russland nimmt zu. Und ein Bombenattentat ist das Schlimmste, was passieren kann, denn es vertieft die Gräben.

Neue Terroristen wachsen nach

tagesschau.de: Was wird die russische Regierung jetzt tun?

Rahr: Das, was sie immer tut. Den Terrorismus verdammen, die mutmaßlichen Hintermänner verfolgen und vielleicht irgendwo in Dagestan hinrichten. Aber es bringt ja nichts: Es wachsen sofort neue Terroristen nach. Aber das Problem gibt es im Nahen Osten auch. Und da leben die Menschen seit 30 Jahren mit dem Terror.

tagesschau.de: Nach dem Geiseldrama von Beslan 2004 hatte Putin seine Befugnisse ausgeweitet, demokratische Rechte wurden eingeschränkt. Könnte sich das wiederholen?

Rahr: Das nützt ja nichts. Die Korruption konnte Putin so auch nicht besiegen. Denkbar sind hingegen schärfere Kontrollen an den Grenzen und an den Flughäfen. Das wird vielleicht drei Monate dauern und dann gehen die Menschen zum Alltag über. Sie wissen: Wir müssen mit dem Terror, mit dem Tod leben.

tagesschau.de: Das klingt ziemlich fatalistisch...

Rahr: Der Terror im Kaukasus muss politisch eingedämmt werden. Man muss sich mit den Clans einigen. Doch das ist eine langfristige Angelegenheit. Es gibt kein Patentrezept.

Die Russen haben Fehler gemacht

tagesschau.de: Ist Autonomie eine Lösung?

Rahr: Nein, wie man am Beispiel Tschetschenien sieht. Obwohl die Russen abgezogen sind und die Tschetschenen ihre Freiheit haben, wuchs dort der militante Islamismus.

tagesschau.de: Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der Politik der russischen Regierung im Kaukasus und den Anschlägen in Moskau?

Rahr: Ich weiß, was Sie meinen. Sie meinen, der russische Terrorismus sei hausgemacht - das ist die Sichtweise des Westens. Ich meine: So einfach ist das nicht. Ja, die Russen haben katastrophale Fehler im Nordkaukasus gemacht, aber für den Terror dort tragen sie nicht allein die Schuld. Der Terrorismus geht uns alle an.

tagesschau.de: Mehr Aufbauhilfe für den Kaukasus würde auch nichts bringen?

Rahr: Nein. 90 Prozent der Gelder werden geklaut. Der Kaukasus muss politisch stabilisiert werden - im Dialog. Es gibt keinen anderen Weg.

Das Interview führte Wenke Börnsen, tagesschau.de.