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Interview zur Flüchtlingskrise in Europa "Italien nimmt die Dimension noch nicht wahr"

Stand: 09.11.2015 05:00 Uhr

Noch immer kommen in Italien nahezu jeden Tag Hunderte Flüchtlinge über das Mittelmeer an - doch mangels Perspektive wollen die wenigsten bleiben, erklärt ARD-Korrespondent Tilmann Kleinjung im Interview mit tagesschau.de. Das Ausmaß der Flucht nach Deutschland sei in Italien noch nicht angekommen.

tagesschau.de: In Deutschland ist die Flüchtlingskrise erst mit diesem Sommer zum großen Thema geworden - anders als in Italien. Wie blicken die Menschen in Italien auf diese Situation?

Tilmann Kleinjung: Meinem Eindruck nach hat Italien noch nicht so ganz mitbekommen, was da gerade in Deutschland passiert. Man hat einfach die historische Dimension noch nicht richtig wahrgenommen: Dass die Zahl der Menschen, die derzeit über die Türkei, Griechenland und den Balkan nach Deutschland kommen, eine ganz andere Dimension hat als die Flucht über das Mittelmeer. Diese Horizonterweiterung hat noch nicht stattgefunden. Anders ist es mit Einzelereignissen wie einerseits dem Wochenende, als in München Zehntausende ankamen oder andererseits den Demonstrationen in Dresden oder Angriffen auf Unterkünfte: Davon wird sehr schnell deutlich Notiz genommen.

Tilmann Kleinjung
Tilmann Kleinjung, ARD-Hörfunkstudio Rom
Tilmann Kleinjung, geboren 1971, hat in München und Basel evangelische Theologie studiert und arbeitet seit 1990 für den Bayerischen Rundfunk. Seit September 2010 ist Tilmann Kleinjung Leiter des ARD-Hörfunkstudios für Italien, den Vatikan und Malta.

tagesschau.de: Sie sind seit fünf Jahren Korrespondent in Rom: Wie hat sich die Flüchtlingssituation in Italien seither verändert?

Kleinjung: Als ich hier ankam, war die Flucht über das Mittelmeer schon ein Thema und Lampedusa bereits das Synonym für die Hoffnung der Afrikaner, in Europa ein neues Leben zu beginnen und auf der anderen Seite für das Versagen Europas, Flüchtlinge zu schützen. Am 3. Oktober 2013 ertranken Hunderte Menschen vor der Küste Lampedusas und die Flucht bekam nochmal eine ganz neue Dimension, weil Italien darauf zu Recht mit der Operation "Mare Nostrum" reagiert und etliche Kriegsschiffe ins Mittelmeer geschickt hat. Diese Aufgabe wird mittlerweile von der gesamten Europäischen Union wahrgenommen und hat im Grunde noch einmal zu einem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen geführt. Allein im letzten Jahr kamen 170.000 auf diesem Weg nach Italien.

"Jetzt seht Ihr, wie es uns gegangen ist"

tagesschau.de: Ist man in Italien nun froh, dass das Problem nun in erster Linie nicht mehr das eigene ist?

Kleinjung: Man muss sagen, dass es in Italien in diesem Jahr nicht unbedingt weniger Flüchtlinge sind - es hat nur nicht die deutschen Dimensionen. Bislang sind etwa 140.000 Menschen über das Mittelmeer gekommen: Wenn man das mit dem Vorjahreszeitraum vergleicht, sind das lediglich etwa zehn Prozent weniger. Vor allem für afrikanische Flüchtlinge ist der Weg über das Mittelmeer immer noch die einzige Möglichkeit, nach Europa zu kommen. Der Umweg über die Balkanroute kommt für sie meist nicht in Frage.

Auf der anderen Seite habe ich schon das Gefühl, dass man mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nimmt, dass Deutschland vor ähnlichen Problemen steht wie Italien zum Beispiel zur Zeit des Arabischen Frühlings 2011 als zigtausende junger Nordafrikaner versuchten, nach Italien zu kommen. Neulich hat zum Beispiel die Parlamentspräsidentin, die früher beim UNHCR gearbeitet hat, Deutschland in einer Rede über Flüchtlinge zwar sehr gelobt, aber ich habe da auch durchgehört: Jetzt seht Ihr mal, wie es uns gegangen ist.

tagesschau.de: Italienische Politiker hatten immer wieder geklagt, Europa lasse das Land in der Flüchtlingskrise allein. War das tatsächlich so?

Kleinjung: Ja, zum Teil trifft das natürlich zu. Die europäischen Politiker haben Italien ja immer wieder dazu aufgefordert, die Außengrenzen zu sichern. Es gab beispielsweise ganz klare Worte aus Bayern, das immer auf die Umsetzung der Regelungen des Dublin-Verfahrens gedrungen hat, damit Flüchtlinge dort, wo sie an Land gegangen sind, registriert werden - mit dem Ziel, diejenigen dorthin wieder zurückzuschicken.

Auf der anderen Seite gab es auch immer wieder eine Rhetorik mit dem Tenor "wir werden im Stich gelassen". Doch das ist nicht so ganz deckungsgleich mit der Realität, denn die Europäische Union hat Millionensummen für die Unterbringung von Flüchtlingen in Italien und Griechenland zur Verfügung gestellt. Wirklich im Stich gelassen wurde Italien nicht - und es gab zu Beginn der "Mare Nostrum"-Operation auch Angebote der EU, sich da finanziell oder mit Schiffen zu beteiligen. Aber das wurde meines Wissens von Italien zunächst abgelehnt.

"Keine italienische Außengrenze, sondern eine europäische"

tagesschau.de: Nicht zuletzt in Italien begann die Praxis, Flüchtlinge in ein anderes Land "durchzuwinken". Fühlen sich Italiens Politiker durch die aktuellen Entwicklungen jetzt bestätigt?

Kleinjung: Auf jeden Fall! Italienische Politiker fordern seit Jahren, dass man das System der Aufnahme von Flüchtlingen überdenkt. Man stand eben selbst im Fokus, weil die meisten Menschen nach Italien kamen. Deshalb hat Italien immer für eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU geworben - mit dem Argument, das ist keine italienische Außengrenze, sondern eine europäische. Und Ministerpräsident Renzi ist nun sehr stolz darauf, dass sich seine Linie nun durchgesetzt hat, dass man also Abschied nimmt vom Dublin-Verfahren.

tagesschau.de: Gibt es denn in Italien selbst einen Mechanismus zur Umverteilung der Flüchtlinge im Land?

Kleinjung: Ja, der Zentralstaat achtet darauf, dass die Flüchtlinge gleichmäßig auf alle Regionen verteilt werden und es damit eine gerechte Lastenverteilung gibt. Trotzdem gibt es ein gewisses Ungleichgewicht zu Lasten des Südens, weil natürlich die meisten Flüchtlinge an den Häfen im Süden ankommen. Deshalb ist Sizilien am stärksten davon betroffen, aber Sizilien ist nach meiner persönlichen Erfahrung auch am tolerantesten bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Fremdenfeindliche Parolen wie im Norden, wo einzelne Bürgermeister der Lega Nord sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen und der Präfekt eingreifen muss, gibt es in Süditalien nicht. Das mag auch damit zu tun haben, dass die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen auch Teil eines Geschäftes ist.

Keine Sozialleistungen, fehlende Perspektive

tagesschau.de: Trotzdem gelten die Bedingungen für Flüchtlinge in Italien als äußerst schlecht…

Kleinjung: 170.000 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr angekommen. Davon haben 64.400 2014 einen Asylantrag gestellt. Jetzt stellt sich die Frage: Wo sind die 100.000 anderen hin? Die allermeisten sind nicht in den Untergrund abgetaucht, sondern haben versucht, nach Frankreich, nach Deutschland, nach Schweden, nach Finnland oder Großbritannien zu kommen, weil sie dort entweder Verwandte haben oder eben mehr Chancen für ihre Zukunft sehen. Das ist ein Phänomen, das in Italien bekannt ist und das vor allem Flüchtlingshilfeorganisationen zugeben. Das Hauptproblem ist in Italien gar nicht die Unterkunft am Anfang. Das Hauptproblem ist, dass Flüchtlinge, deren Status einmal anerkannt ist als Asylbewerber, praktisch keinerlei Hilfe und Unterstützung bekommen. Die stehen von einem Tag auf den anderen auf der Straße, leben in Rom in den Parks oder besetzen Häuser und versuchen zu überleben. Und das motiviert die allermeisten Flüchtlinge, dann möglichst schnell wieder wegzugehen.

tagesschau.de: Steckt dahinter politisches Kalkül, damit möglichst wenige bleiben?

Kleinjung: Da politisches Kalkül zu unterstellen, wäre vermessen. Man muss generell sagen, dass der Sozialstaat in Italien nicht so funktioniert wie bei uns in Deutschland. Hier gibt es kein Hartz IV und auch keine Arbeitslosenversicherung. Das alles ist im Werden und betrifft natürlich auch die Flüchtlinge - richtet sich aber nicht gezielt gegen sie. Auf der anderen Seite haben wir hier in Italien mit der Lega Nord eine Partei, die im Grunde genommen die Anliegen der Pegida-Bewegung in die Politik bringt. Vielleicht gibt es deshalb keine solchen Demonstrationen in Italien, weil es diese offen rassistische, fremdenfeindliche Partei Lega Nord gibt, die immer wieder versucht, mit Parolen wie "das Boot ist voll" und "Italien den Italienern" Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen.

Große Unterschiede innerhalb des Landes

tagesschau.de: Diese Rhetorik wird von den Zahlen aber nicht gedeckt?

Kleinjung: Italien ist ein großes Land mit rund 61 Millionen Einwohnern. Die Zahl von 64.400 Asylbewerbern ist dagegen nur ein ganz geringer Bruchteil und von daher trifft diese Rhetorik überhaupt nicht zu. Es ist oft eine Frage des politischen Willens, inwiefern man bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Vor allem in der Erstversorgung bestehen dabei riesige Unterschiede in Italien. Ich habe mir in Palermo Heime der Caritas angeschaut, die in jeder Hinsicht vorbildlich waren. Aber dann gibt es eben andere Einrichtungen wie "Cara Mineo", das große Zentrum auf Sizilien, wo mehrere tausend Flüchtlinge leben ohne Perspektive und sinnvolle Beschäftigung und die im Schnitt dort 15 Monate auf ihren Asylbescheid warten. Und diese Unterschiede sind in Italien gewaltig. Da muss man schauen, dass man ein gewisses europäisches Niveau erreicht.

tagesschau.de: Aktuell konzentriert sich die Aufmerksamkeit vor allem auf Griechenland als Ankunftsland. Nimmt die Zahl der Flüchtlinge nach Italien also doch ab?

Kleinjung: Es kommen immer noch Flüchtlinge. Auch in den letzten Tagen kamen wieder Boote und es wurden Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Nicht zuletzt weil Unglücke in der jüngsten Zeit durch den koordinierten europäischen Einsatz im Mittelmeer oft vermieden werden konnten, produziert die Mittelmeerflucht jetzt eben nicht mehr solche Schlagzeilen. Auf der anderen Seite gibt es eine kontinuierliche Fluchtbewegung aus Afrika nach Italien: in den letzten Tagen sind wieder einige hundert angekommen. Wenn es jetzt weniger werden, liegt es nicht unbedingt daran, dass die Afrikaner den Weg über Lesbos wählen. Sie fliehen nach wie vor über Libyen, aber das Wetter ist so schlecht, dass man nicht mal mehr ein Boot in Libyen besteigen kann.

Das Interview führte Caroline Ebner, tagesschau.de.