INF-Vertrag Wegmarke der Abrüstung
Das INF-Abkommen war der erste Abrüstungsvertrag der Nachkriegsgeschichte. Er entstand in einem Klima der Massenproteste und schien das atomare Wettrüsten beendet zu haben - bis zur Ankündigung Trumps, aus dem Vertrag auszusteigen.
Die Welt war eine andere, als US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew Anfang der 1980er-Jahre das Wettrüsten um die Vorherrschaft der politischen Systeme beschleunigten. Es war eine Zeit der Massendemonstrationen. In der vorläufigen Bundeshauptstadt Bonn kamen am 10. Oktober 1981 300.000 Menschen zusammen, um im Hofgarten "gegen die atomare Bedrohung" - so der Slogan der Kundgebung in dem innerstädtischen Park - zu protestieren.
Die Menge der Menschen wirkte umso größer, da in Bonn gerade mal so viele Einwohner lebten, wie Demonstranten in die Stadt kamen. Im Juni 1982 kamen aus Anlass eines Reagan-Besuches rund 500.000 Menschen nach Berlin. Vor genau 35 Jahren, am 22. Oktober 1983, gingen in Bonn, Berlin, Hamburg, Stuttgart, Ulm und anderen Städten insgesamt 1,3 Millionen Aktivisten auf die Straße.
Herausforderung für das politische Establishment
Die Friedensbewegung war für das politische Establishment der Bundesrepublik eine Herausforderung. Vielen gewählten Politikern bereitete diese Art der Meinungsäußerung Unbehagen. Es war aber offenkundig, dass sie die vielen Menschen nicht einfach ignorieren konnten. Der Schriftsteller, Nobelpreisträger und Friedensaktivist Heinrich Böll sagte in seiner Rede 1981 im Bonner Hofgarten: "Wir verbreiten keine Angst! Wir drücken auch gar nicht Angst aus. Die Politiker sollten doch wissen, wenn sie in die Arsenale ihrer Armeen sehen und in die Planungen, in die geplanten Systeme, die da alle sich überschlagen, dass sie die Angst verbreiten."
Bedrohung durch Wettrüsten schien abgewendet
Der INF-Vertrag, den US-Präsident Donald Trump nun aufkündigen will, stand am Ende der Friedensbewegung als Massenphänomen. Nach Unterzeichnung im Dezember 1987 durch Reagan und den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow trat der Vertrag im Juni 1988 in Kraft. Danach dauerte es noch etwas mehr als ein Jahr, dann brachen Kommunismus und Sozialismus in Osteuropa zusammen. Nicht viel später löste sich auch das Verteidigungsbündnis des Warschauer Paktes auf. Die atomare Bedrohung durch das Wettrüsten der Supermächte schien abgewendet.
Wesentlicher Schritt auch für die deutsche Einheit
Der Historiker Tim Geiger vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin sagt im Gespräch mit tagesschau.de, dass die zeitliche Nähe der Ereignisse "in der Tat frappierend" sei. "Der Vertrag wurde auch schon gerne als das Ende des Kalten Krieges gesehen", so der Wissenschaftler. Der INF-Vertrag sei einer der entscheidenden Schritte gewesen - weniger im Sinne einer triumphierenden Schule amerikanischer Historiker, die sagen, Reagan habe das Reich des Bösen totgerüstet. "Sondern es war ein entscheidender Schritt zur Vertrauensbildung, der notwendig war, damit Gorbatschow seine Reformen im Osten durchführen konnte, die wiederum für das Ende des Kalten Krieges und damit auch für die deutsche Einheit wesentlich wurden."
Verschrottung bezog sich nicht auf Nuklearsprengköpfe
Laut Geiger entfaltete der Vertrag seine Wirkung auch nach Ende der Sowjetunion. Im Vertrag ging es um die Abschaffung nuklearer Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Die darin festgelegte Verschrottung bezog sich jedoch nicht direkt auf die Nuklearsprengköpfe. "Das wird oft verkürzt dargestellt", so der Historiker. "Die endgültige Demontage der Nuklearsprengköpfe war eigentlich eine der letzten Handlungen der Obama-Regierung. Davor wurden die durchaus noch gehortet. Die Zerstörung der Träger und damit das Unbrauchbarmachen der Waffen waren im INF-Vertrag zunächst das Entscheidende."
"Ausgerechnet Reagan"
Der INF-Vertrag sei der erste Abrüstungsvertrag in der Geschichte der Nachkriegszeit gewesen, sagt Geiger. Alle anderen Verträge dienten vielmehr der Rüstungskontrolle oder Rüstungsbeschränkung, um den Auswuchs weiterer Rüstung zu begrenzen. Das INF-Abkommen sei schon von Zeitgenossen als Wegmarke der Abrüstung und der Verbesserung der Ost-West-Beziehungen gesehen worden. Es sei insofern bizarr, "dass es ausgerechnet Reagan - dem von Trump verehrten US-Präsidenten, dem Hardliner des Kalten Krieges - gelungen ist, diesen ersten wirklichen Abrüstungsvertrag durchzusetzen".
Signal für den Ostblock
Verträge wie das INF-Abkommen werden zwar von Diplomaten ausgehandelt. Dennoch beeinflusste die Friedensbewegung die politische Stimmung. Zwar schien es zunächst, als hätten die Aktivisten in Deutschland verloren, als im November 1983 die neuen Mittelstreckenraketen in die Bundesrepublik kamen. "Der Protest von Millionen Menschen dagegen ist jedoch ein wichtiges Signal gewesen, das den Wandel auch im Ostblock ermöglichte", sagt Geiger.
Gorbatschow: "Die Pistole an der Schläfe"
Auf der anderen Seite haben laut Geiger auch die Vertreter des Arguments Recht, die in dem Wettrüsten ein sogenanntes Totrüsten des Gegners sehen. "Durch die Stationierung von hochmodernen Pershing-II-Raketen und von Cruise Missiles, die in vergleichsweise kurzer Zeit das sowjetische Kernland erreichen konnten, war die unmittelbare Kriegsgefahr für die Sowjetunion enorm erhöht worden. Wie Gorbatschow in seinen Memoiren sagte: 'Die Pistole war direkt an unsere Schläfen gesetzt'". Die Sowjetunion sei gezwungen gewesen, diese Raketen auf die eine oder andere Weise möglichst schnell wieder loszuwerden.
Noch bevor Gorbatschow 1985 an die Macht kam, habe die Sowjetunion auf eine Defensivstrategie umgesteuert, "weil sie eben feststellte, dass nukleare Kriegsführung für sie keinen mehr Sinn hat", so Geiger. Mit dem INF-Vertrag schien der Raketenkonflikt endgültig zu Grabe getragen worden zu sein. Wie sich jetzt herausstelle, sei das eben leider nicht der Fall, fasst Geiger zusammen.