EU-Flüchtlingspolitik Die Willigen und die Unwilligen
Umverteilung von Flüchtlingen, Hotspots, Grenzschutz, Zusammenarbeit mit der Türkei: In der Flüchtlingspolitik haben die EU-Länder viel versprochen - und wenig umgesetzt. Es hakt an vielen Stellen, doch vor allem fehlt es an Solidarität. Ein Überblick von tagesschau.de.
In der Flüchtlingskrise stößt die europäische Solidarität an ihre Grenzen. Die 28 Staaten finden keine gemeinsame Linie, die Union driftet auseinander. Da ist einerseits die "Koalition der Willigen", eine lose Gruppe von Staaten, die in der Flüchtlingspolitik auf Solidarität und auf enge Kooperation mit der Türkei setzen.
Deutschland ist hier treibende Kraft, außerdem zählen Österreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg, Schweden, Finnland, Slowenien, Portugal, Frankreich und Griechenland dazu. Doch auch der Wille der "Willigen" bröckelt, Bundeskanzlerin Angela Merkel gehen die Verbündeten aus. So scherten zuletzt sogar Österreich und Frankreich aus: Obergrenze für Flüchtlinge, keine festen Kontingente, neue Grenzzäune - alles Positionen, die konträr zum Kurs Deutschlands liegen.
Zu den Verfechtern einer Abschottungspolitik, also der "Koalition der Unwilligen", gehören die Visegrad-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei), aber auch Großbritannien. Ihnen gemeinsam ist: Sie haben bisher nur sehr wenige Flüchtlinge aufgenommen.
Wegen der Spaltung in der Flüchtlingsfrage kommen auch die bereits vor Monaten gefassten Beschlüsse der EU nicht voran. Kontingente, Verteilung, Hotspots, Grenzschutz - es hakt an allen Ecken und Enden. Ein Überblick über die größten Baustellen:
Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen
Im September beschlossen die EU-Staaten per Mehrheitsbeschluss (und gegen den ausdrücklichen Willen mehrerer Mitgliedsländer) die Umverteilung von 160.000 Menschen vor allem aus Griechenland und Italien. Diese zwei Staaten tragen seit Jahren die Hauptlast der Flüchtlingskrise und sollen nun zumindest ein wenig entlastet werden. Zur Erinnerung: 885.000 Flüchtlinge kamen 2015 über die Türkei, der Großteil über die unübersichtliche Seegrenze in der Ägäis. Die meisten reisten ungehindert Richtung Nordeuropa weiter.
Doch der Umverteilungs-Plan kommt nicht voran, weil die Staaten nicht mitziehen - allen Appellen, Mahnungen und Drohungen aus Brüssel zum Trotz. Bislang wurden 583 (Stand 16. Februar) Flüchtlinge aus Griechenland und Italien umverteilt.
EU-Vertretern zufolge gibt es mehrere Gründe, warum die Umverteilung nicht funktioniert. Dazu gehören lange Prüfungen vor der Verteilung, weil Regierungen Terroristen unter den Flüchtlingen fürchten, fehlende Unterbringungskapazitäten für Asylsuchende und Logistikprobleme bei Charterflügen. Einige Staaten aus Osteuropa weigern sich zudem generell, Flüchtlinge aufzunehmen. So gibt es bisher für die Menschen, die von Griechenland aus verteilt werden sollen, nur etwas mehr als 1000 Zusagen aus den übrigen Mitgliedstaaten. Ungarn und die Slowakei klagten sogar gegen den EU-Umverteilungsbeschluss vor dem Europäischen Gerichtshof.
Ursprünglich wollte die EU-Kommission (und Deutschland) auch viel mehr als nur die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen. Ziel war eigentlich ein fester Verteilschlüssel, eine Quote, die festlegt, welches EU-Land wie viele Menschen jährlich aufnimmt. Doch das ist illusorisch, weil schlicht nicht mehrheitsfähig. Inzwischen spricht EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nur noch von einem "freiwilligen humanitären Aufnahmeprogramm", doch selbst das erscheint fern der Realität (siehe oben). Auch Merkel löst sich gezwungenermaßen von der Kontingentidee, neue Beschlüsse beim EU-Gipfel dazu seien nicht zu erwarten: Die EU-Länder würden sich "ziemlich lächerlich" machen, wenn sie neue Zahlen zur Flüchtlingsaufnahme beschließen würden, während bisherige Vereinbarungen bei weitem nicht umgesetzt seien.
Hotspots
Die EU konzipierte sogenannte Hotspots, um Neuankömmlinge in Italien und Griechenland zu registrieren. Dort sollen Wirtschaftsmigranten von Flüchtlingen getrennt, aber beispielsweise auch Terroristen herausgefiltert werden. Von hier aus sollen auch nicht schutzberechtigte Menschen zurück in ihre Heimatländer gebracht werden.
Die Zentren sollten eigentlich schon 2015 eröffnet werden, das wurde aber mehrmals verschoben. Die EU-Kommission begründet dies mit Mängeln bei Infrastruktur, Personal und Koordinierung. Nun sind offenbar vier der fünf auf den griechischen Inseln geplanten sogenannten Hotspots einsatzbereit. Nach der Eröffnung des ersten Hotspots auf der Insel Lesbos sollen nun auch auf den Inseln Leros, Chios und Samos die ersten Flüchtlinge in Empfang genommen und registriert werden. Nur auf der Insel Kos leisten Bewohner weiterhin Widerstand gegen die Einrichtung.
Ein Registrierzentrum auf der Insel Lesbos bei Moria.
Der Anteil an Migranten, von denen Fingerabdrücke genommen wurden, ist von acht Prozent im September 2015 auf 78 Prozent im Januar 2016 gestiegen. Wenn alle Hotspots einsatzbereit sind, sollen sie nach Angaben der EU-Kommission täglich insgesamt 11.000 Fingerabdrücke nehmen können.
Zudem stellt die EU 12,7 Millionen Euro für den Bau von Aufnahmezentren für 8000 Menschen zur Verfügung. Diese werden zurzeit in Athen und Thessaloniki errichtet. Insgesamt sollen dort in den kommenden Monaten Plätze für rund 50.000 Menschen auf dem Festland gebaut werden, wo die Menschen längerfristig als in den Hotspots untergebracht werden können.
Auch in Italien sollen Hotspots gebaut werden, sechs insgesamt. Doch auch hier gehe es nur langsam voran, teilte die EU-Kommission mit. Erst zwei Hotspots seien vollständig betriebsbereit. Dort sei der Anteil der Migranten, denen Fingerabdrücke abgenommen wurden, von 36 Prozent im September 2015 auf 87 Prozent im Januar 2016 gestiegen.
Aktionsplan mit der Türkei
Aufgrund ihrer geografischen Lage ist die Türkei ein wichtiges Erstaufnahme- und Transitland für Flüchtlinge, vor allem aus dem Nachbarland Syrien. Die EU und die Türkei einigten sich Ende November auf einen gemeinsamen Aktionsplan samt finanzieller Hilfen. Vor allem Deutschland setzt voll auf die Türkei, um die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Denn erklärtes Ziel des Aktionsplans ist es, Flüchtlinge, die über die Türkei kommen, an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Sie sollen möglichst in der Türkei bleiben. Zudem soll illegale Zuwanderung durch die Kooperation besser verhindert werden. Im Gegenzug wollen einige EU-Staaten (die "Koalition der Willigen") der Türkei freiwillig und solidarisch sogenannte syrische Kontingent-Flüchtlinge abnehmen. Offiziell gibt es dazu noch keine Zahlen, und auch sonst ist wenig konkret.
Die EU verpflichtete sich, zunächst zusätzliche Mittel in Höhe von drei Milliarden Euro bereitzustellen, um der Türkei dabei zu helfen, die Lage der syrischen Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern. Die Regierung in Ankara machte bereits deutlich, dass die zugesagten drei Milliarden wohl kaum ausreichen. Das Land beherbergt bereits 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien.
Doch das Geld war wochenlang durch EU-Querelen blockiert. Laut dem EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen, Johannes Hahn, sollen die vereinbarten drei Milliarden Euro nun in den kommenden zwei Jahren verfügbar sein.
Und so richtig zufrieden ist man mit der Türkei auch nicht. Knapp drei Monate nach Vereinbarung des gemeinsamen Aktionsplans EU-Türkei, in dem sich Ankara zur besseren Grenzkontrolle und einem entschlossenen Vorgehen gegen Schlepper verpflichtet hat, heißt es von der EU: "Der Zustrom von Migranten, die in Griechenland aus der Türkei ankommen, bleibt viel zu hoch."
Grenzschutz und Zäune
Mehr Schutz der EU-Außengrenzen - das wollen alle EU-Mitgliedsländer. Besonders im Blick: Griechenland. Aus Sicht der Abschottungsverfechter tut die Regierung in Athen hier zu wenig, Flüchtlinge würden einfach durchgewunken. Mit dem Rauswurf aus dem Club der Schengen-Staaten wird Athen inzwischen gedroht (zu Schengen später mehr). Griechenland beklagt dagegen immer wieder, dass versprochene Grenzschützer und Material aus den anderen EU-Staaten ausblieben.
Fakt ist: Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Europa ist weiterhin hoch. Zu hoch, wie die Verfechter einer restriktiven Flüchtlingspolitik meinen. Die Visegrad-Staaten plädieren daher dafür, die Balkanroute abzuriegeln, indem die griechische Grenze zu Mazedonien und Bulgarien mit einem Zaun geschlossen wird. Ungarns Regierungschef Viktor Orban spricht von einer "zweiten Verteidigungslinie" südlich seines Landes. Merkel lehnt das strikt ab: "Einfach in Mazedonien, das gar kein EU-Mitglied ist, einen Schutzzaun zu bauen, ohne uns darum zu kümmern, in welche Notlage das Griechenland brächte, das wäre nicht nur kein europäisches Verhalten, sondern löste auch unsere Probleme nicht", sagte sie.
Auch Juncker hält die Abriegelung rechtlich nicht für zulässig. Die Vergangenheit hat auch gezeigt, dass Flüchtlinge schnell auf andere Routen ausweichen, wenn ein Weg versperrt wird.
Da die EU-Außengrenze aus Sicht vieler Mitgliedsländer aber derzeit nur unzureichend geschützt ist, begannen eine Reihe von EU-Staaten wieder mit eigenen Grenzkontrollen. Das Schengen-Abkommen ist quasi außer Kraft. In den 26 Ländern des Schengenraums ist normalerweise Reisen ohne Kontrollen möglich. Wegen der hohen Flüchtlingszahlen haben fünf Länder diese wieder eingerichtet: Deutschland, Dänemark, Österreich, Schweden sowie das Nicht-EU-Land Norwegen. Hinzu kommt Frankreich, das dies aber mit der Terrorgefahr begründet. Solange die EU-Außengrenzen nicht geschützt werden, dürfte sich daran so schnell nichts ändern, auch wenn die Wirtschaft bereits vor Milliarden-Verlusten durch Lkw-Staus an den Grenzen warnt. Die EU bereitet bereits eine Ausweitung auf bis zu zwei Jahre vor.
Frontex und NATO
Im Dezember hatte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf für einen besseren europäischen Grenz- und Küstenschutz vorgelegt. Das Neue daran: Dieser Grenzschutz soll in Krisensituationen auch gegen den Willen von Mitgliedstaaten eingreifen. Im Normalfall fordert ein Mitgliedsland den Einsatz des Grenzschutzes an. Den Plänen zufolge überwacht die neue Behörde selbst die Lage und bewertet die Risiken. Zeichnet sich ein Problem ab, werden Verbindungsoffiziere entsandt.
Nach den Kommissionsvorstellungen baut der europäische Grenz- und Küstenschutz auf der existierenden EU-Behörde Frontex auf und bekommt 1000 Mitarbeiter - doppelt so viele wie Frontex. Zudem soll es eine Reserve von mindestens 1500 Grenzschutzbeamten geben, die innerhalb kürzester Zeit in Mitgliedsländer entsandt werden können. Das veranschlagte Budget für die neue Behörde liegt bei 238 Millionen Euro und soll 2017 auf 322 Millionen Euro ansteigen. Die EU-Staaten müssen den Plänen noch zustimmen.
Zudem beschloss die NATO einen Marine-Einsatz in der Ägäis. Es gehe darum, den Kampf gegen etablierte kriminelle Netzwerke von Schleusern zu unterstützen. Die NATO-Schiffe sollen Muster im Vorgehen der Schlepper offenlegen und das Lagebild an die türkische und griechische Küstenwache sowie an die EU-Grenzschutzorganisation Frontex weitergeben. Selbst eingreifen werden die Soldaten nicht.