Wahl zum Europaparlament Neue Verhältnisse in Brüssel
Erstmals seit 40 Jahren drohen Christdemokraten und Sozialdemokraten die Mehrheit im EU-Parlament zu verlieren. Deutliche Gewinner der Wahl sind nach ersten Prognosen die Grünen, Liberale und Europaskeptiker. Das dürfte Folgen haben.
40 Jahre nach der ersten EU-Wahl stehen Christdemokraten und Sozialdemokraten erstmals vor dem Verlust ihrer Mehrheit im Europaparlament. Nach einer Prognose des Europaparlaments, die Daten aus elf EU-Ländern berücksichtigt, zeichnet sich ab, dass die Europäische Volkspartei (EVP), der CDU und CSU angehören, sowie die Allianz der Sozialdemokraten erhebliche Verluste einfahren werden. Das würde die Arbeit im Parlament deutlich verändern und auch andere EU-Institutionen beeinflussen.
Demnach bleibt die EVP zwar stärkste Kraft im neuen Parlament, verliert aber 43 Sitze und ist künftig nur noch mit 173 Abgeordneten vertreten. Die Sozialdemokraten kommen nach der Prognose auf 147 Mandate - ein Minus von 37 Sitzen. Beide Parteien wären demnach nicht mehr in der Lage, alleine eine Mehrheit für Gesetzesvorhaben oder Personalentscheidungen herzuführen. Deutlich gestärkt werden demnach die Liberalen (ALDE&R) mit einem Plus von 33 Sitzen (102 Mandate insgesamt) und die Grünen, die um 19 auf 71 Sitze zulegen.
Deutliche Verluste drohen demnach auch den Linken (-10/42 Mandate insgesamt) und der konservativen EKR-Fraktion (- 19/58). Dafür könnte die europaskeptische EFDD, der auch die AfD angehört, um 14 Mandate auf 56 Abgeordnete wachsen und die rechtspopulistische ENF, der die österreichische FPÖ angehört, sogar um 21 auf 57 Mandate.
Wie die Staaten wählten
Damit würde sich in Europa ein Trend bestätigen, der sich auch in Deutschland abzeichnet - hier schnitten Union und SPD offenbar historisch schlecht ab. In Frankreich hängte die rechtspopulistische RN von Marine Le Pen ersten Prognosen zufolge die Partei von Präsident Emmanuel Macron ab.
In Ungarn zeichnet sich ein klarer Sieg der regierenden Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orban ab - das staatliche Fernsehen zitierte ein Prognose, die der Fidesz 56 Prozent der Stimmen vorhersagte. In Polen landete die regierende PiS nach einer Umfrage vor der liberalkonservativen Bürgerplattform.
In Österreich dagegen könnte die konservative ÖVP auf das beste Ergebnis kommen, dass jemals eine Partei bei einer Europawahl in dem Land erzielte.
Auch in Griechenland liegt die konservative Nea Dimokratia deutlich vor der regierenden Syriza. In den Niederlanden, die am Donnerstag zusammen mit Großbritannien eröffneten, zeichnet sich laut Nachwahlbefragungen ein Erfolg der Sozialdemokraten ab.
In Spanien könnten dagegen die regierenden Sozialisten als Gewinner aus der Wahl hervorgehen. Wie die Zeitung "ABC" meldet, siegte die PSOE deutlich mit 30 Prozent vor der konservativen PP (19,5 Prozent). Auch in Portugal setzten sich die regierenden Sozialisten klar durch. In Schweden konnten sich die Sozialdemokraten als stärkste Kraft behaupten. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten erzielten aber starke Zugewinne und landeten laut dem TV-Sender SVT auf dem dritten Rang nur knapp hinter den Moderaten.
Oettinger beklagt schwindenden Einfluss
Deutschland verliert mit dem Ergebnis der Europawahl nach Einschätzung des deutschen EU-Kommissars Günther Oettinger an Einfluss in Europa. In den drei größten Fraktionen sei Deutschland im Europaparlament nun schwach vertreten, sagte Oettinger in der ARD. Erfreulich sei lediglich, dass die Rechtspopulisten bei knapp 20 Prozent lägen.
AfD-Spitzenkandidat Jörg Meuthen kündigte dagegen in der ARD an, die Macht der Europäischen Union zu beschneiden. "Wir gehen nach Brüssel, um die EU zu reparieren und sie auf ihre Kernaufgaben zu reduzieren", sagte er.
Die Grünen-Spitzenkandidatin Ska Keller wertete das Abschneiden ihrer Partei als "Signal für mehr Klimaschutz". Sie erhob für ihre Partei den Anspruch, bei der Wahl einer Kommissionspräsidentin oder eines Kommissionspräsidenten ein entscheidendes Wort mitzureden.
Ringen um Juncker-Nachfolge
Keller verwies damit auf die anstehende Entscheidung über die Nachfolge von Jean-Claude Juncker. Er scheidet als EU-Kommissionspräsident aus, um seine Nachfolge bewerben sich unter anderem der EVP-Spitzenkandidat und CSU-Politiker Manfred Weber und der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermanns, bislang Vize-Präsident der Kommission.
Wie die Entscheidung getroffen wird, ist noch völlig unklar. 2014 hatte sich Juncker, der damals für die EVP antrat, mit dem damaligen sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Martin Schulz auf eine Ämterverteilung geeinigt. Damit wurde erstmals ein Parteien-Spitzenkandidat Kommissionspräsident.
Bis dahin hatten die Staats- und Regierungschefs der Union den Posten weitgehend unter sich ausgehandelt. Die Unzufriedenheit vieler Staats- und Regierungschefs mit dem Zugriff der Parteien und des Parlaments auf den Posten ist aber offenkundig. Insbesondere Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat in den vergangenen Wochen wiederholt deutlich gemacht, dass er von einem automatischen Konnex zwischen Spitzenkandidatur und Kommissionspräsidentschaft wenig hält.
Einen ersten Aufschluss wird das Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs am kommenden Dienstag geben. Eine Entscheidung soll dann spätestens bis zum EU-Sondergipfel am 21. /22. Juni gefallen sein - so will es jedenfalls EU-Ratspräsident Donald Tusk.
Wie einig werden die Europaskeptiker handeln?
Zu den neuen Unwägbarkeiten gehört auch, dass der Einfluss der europaskeptischen Parteien im neuen Parlament deutlich wachsen wird, aber noch nicht absehbar ist, wie geschlossen diese agieren werden.
Zwar will Italiens Innenminister Matteo Salvini die europäische Rechte einen und eine gemeinsame Fraktion aus seiner Lega, der AfD, dem französischen RN von Marine Le Pen und der FPÖ gründen. Doch abgesehen von ihrer grundsätzlichen Kritik an der EU und ihrer Forderung nach einer strikten Abschottung trennt diese Parteien viel - etwa in der Finanz- und Haushaltspolitik oder der Klimapolitik.
Was Wählern wichtig ist
Die Annahme, dass EU-kritische Parteien bei der Wahl gestärkt werden könnten, hatte in den vergangenen Wochen den Begriff "Schicksalswahl" für den diesjährigen Urnengang geprägt. Eine Vorwahlumfrage von Infratest dimap im Auftrag der ARD zeigte jedoch, dass eine breite Mehrheit der Wähler positiv gegenüber Europa eingestellt ist, wie ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn in den tagesthemen sagte. In neun Ländern sind 80 oder mehr Prozent der Befragten der Ansicht, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat. In zehn weiteren Ländern meinen das immerhin zwischen 65 und 80 Prozent. Nur in Italien liegt die Zustimmung unter 50 Prozent.
Viele Bürger bewerten vor allem die wirtschaftlichen Vorteile durch die EU vorteilhaft. In Deutschland hielten 69 Prozent der Bürger die Wahl für wichtig der höchste Wert, der jemals von Infratest dimap gemessen wurde.
Insgesamt zeichnete sich ein deutlich gesteigertes Interesse der Wähler am Europaparlament ab. Die Wahlbeteiligung lag am Nachmittag nicht nur in Deutschland erheblich über den Zahlen von 2014.
Langes Warten auf Ergebnisse
Mit offiziellen Ergebnissen aus Österreich und den anderen EU-Staaten ist erst in der Nacht zu rechnen. Die nationalen Wahlbehörden müssen mit der Veröffentlichung von offiziellen Ergebnissen warten, bis in allen Staaten die Wahllokale geschlossen haben. Die letzten Wahllokale schließen um 23 Uhr in Italien.
Insgesamt sind bei der Wahl 751 Mandate zu vergeben. Dazu gehören auch 73 Sitze für Kandidaten aus Großbritannien. Diese werden aber nach dem Brexit ihr Mandat verlieren - die Sitze werden dann an andere Mitgliedstaaten verteilt. Dann wird das EU-Parlament nur noch 705 Abgeordnete haben.