UN-Menschenrechtskommissar zu Nahost Warnung vor Vergeltungsschlägen
UN-Menschenrechtskommissar Türk warnt im ARD-Interview vor einer "Unlogik der Eskalation" mit weiteren Vergeltungsschlägen im Nahen Osten. Er befürchtet eine Aushöhlung des humanitären Völkerrechts.
Ein Jahr nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel spricht UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk von einer "Unlogik der Eskalation" - "von der Unlogik der Gewaltspirale und von der Unlogik eines Denkens, wo man immer denkt, dass es Vergeltungsschläge geben muss".
Es sei ganz klar, was jetzt unmittelbar gebraucht werde, sagt Türk: "Eine Waffenruhe, die bedingungslose Freilassung der Geiseln, eine politische Lösung. Und ein Umdenken von Militäraktionen und Kriegen und Gewalt zum Frieden."
Seit dem Massaker am 7. Oktober 2023 erinnert Türk immer wieder an die Regeln des humanitären Völkerrechts: dass es auch bei legitimer Selbstverteidigung um Verhältnismäßigkeit geht, um den Unterschied zwischen militärischen und zivilen Zielen und die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schonen und zu schützen.
Die kollektive Bestrafung der Palästinenser sei eine unverhältnismäßige Antwort auf das Massaker der Hamas in Israel, sagt UN-Menschenrechtskommissar Türk.
Alle Parteien an Kriegsvölkerrecht gebunden
"Es gibt natürlich diese Gräueltaten der Hamas, die absolut zu verurteilen sind", sagt Türk. Aber die kollektive Bestrafung der Palästinenser sei eine unverhältnismäßige Antwort, etwa durch die anfänglichen Militäraktionen Israels oder durch die Behinderung von humanitärer Hilfe durch Israel.
Genauso inakzeptabel sei es, wenn die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah zivile Infrastruktur für ihre militärischen Zwecke nutzten. Alle seien an die Prinzipien des Kriegsvölkerrechts, des internationalen humanitären Rechts gebunden:
Alle Seiten, alle Kriegsparteien sind an diese Regeln gebunden und müssen sie einhalten. Und wenn es eine Kriegspartei weniger macht, bedeutet das nicht, dass die andere Kriegspartei damit wegkommt.
Aushöhlung der Maßstäbe befürchtet
Als Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen hat Türk nicht allein den eskalierenden Nahost-Konflikt im Blick, sondern die ganze Welt. Er fürchtet Auswirkungen auf die ganze Welt, wenn unterschiedliche Maßstäbe angesetzt werden - je nachdem, wer Menschenrechtsverletzungen begeht und gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt.
"Wir sehen Brüche in der internationalen Staatengemeinschaft, wir hören von Doppelmoral, wir sehen was beispielsweise in der Ukraine, Russland passiert, im Sudan, in Myanmar, in so vielen Teilen der Welt, wo es Krieg gibt", sagt Türk. "Und viele kriegerische Parteien schauen sich sehr genau an, wie auf Verletzungen des Völkerrechts reagiert wird. Ich befürchte, dass es zu einer Aushöhlung der Maßstäbe kommt, die wir uns so schwierig erarbeitet haben - gerade was Menschenrechte betrifft und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts."
Türk sieht die Welt an einem Scheidepunkt. Im UN-Menschenrechtsrat appellierte er Anfang September an die Mitgliedstaaten: Die Wahl sei, entweder in einer tückischen "neuen Normalität" weiterzumachen und in eine schwarze Zukunft zu schlafwandeln - oder aber aufzuwachen und die Dinge zum Besseren zu wenden. Weg von der "neuen Normalität" mit "endloser boshafter militärischer Eskalation" und Gleichgültigkeit gegenüber wachsender Ungleichheit.
Spannungen zwischen Israel und den UN
Doch alle Mahnungen des Menschenrechtskommissars wie auch anderer UN-Vertreter bewirken offensichtlich nichts. Die zentralen Ziele der Vereinten Nationen, wie sie im ersten Kapitel der UN-Charta stehen - Sicherung des Weltfriedens, Einhaltung des Völkerrechts und Schutz der Menschenrechte - scheinen ferner denn je. "Es ist sehr frustrierend. Da gibt es schon manchmal diese Momente der Machtlosigkeit, wenn man sieht, was da passiert", erzählt Türk.
Zwischen Israel und den Vereinten Nationen sind die Beziehungen extrem angespannt. Gerade hat die israelische Regierung UN-Generalsekretär Guterres zur "unerwünschten Person" erklärt - weil er aus ihrer Sicht den iranischen Raketenangriff auf Israel nicht ausreichend verurteilt habe.
Auch Türk würde gern nach Israel und in die palästinensischen Gebiete reisen, hat bislang aber keine Erlaubnis bekommen. "Ich hoffe, dass es irgendwann einmal möglich sein wird", sagt er. Denn es sei sehr wichtig, "dass man vor Ort ist und auch sieht, was in Israel passiert ist und dann natürlich in den besetzten Gebieten".
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