Berichte aus der Ukraine Sexualisierte Gewalt als Methode
Aus der Ukraine dringen immer mehr Berichte über sexualisierte Gewalttaten. Konfliktforscher Nagel erklärt, wann es in Kriegen dazu kommt und warum er den Begriff "Vergewaltigung als Kriegswaffe" nicht immer geeignet findet.
tagesschau.de: Aus der Ukraine häufen sich Meldungen über sexualisierte Gewalt russischer Kämpfer gegen die Zivilbevölkerung: Vergewaltigung, Zwang zu sexuellen Handlungen unter Todes- und Gewaltandrohungen, Fälle sexualisierter Folter. Wie bewerten Sie als Wissenschaftler diese Berichte?
Robert Nagel: Ich halte sie für glaubwürdig. Das Ausmaß solcher Fälle ist in Konflikten immer schwer zu erfassen - aber ich zweifle aus mehreren Gründen nicht an den Berichten. Erstens haben russische Streitkräfte und von Russland gesteuerte Kampfgruppen schon in der Vergangenheit sexuelle Gewalt ausgeübt: In Tschetschenien, bei der Annexion der Krim und auch in der Ostukraine.
Zweitens bestehen die russischen Streitkräfte im Ukraine-Einsatz zu einem großen Teil aus Wehrpflichtigen. Sie sind also keine Freiwilligen - und wir wissen aus der Forschung, dass Zwangsrekrutierung ein häufiger vorausgehender Faktor von sexueller Gewalt in Konflikten ist. Wenn Kämpfer einander noch kaum kennen, keine sozialen Bande untereinander haben, können gemeinsam begangene sexuelle Gewaltakte sie zusammenschweißen: Sie lassen den einzelnen Kämpfer Teil der Gruppe werden und weisen ihm einen Platz in der Hierarchie einer von einer bestimmten Männlichkeitsidee geprägten, bewaffneten Organisation zu.
Hinzu kommt, dass Russland Berichten zufolge Kämpfer aus Tschetschenien und Syrien in seine Truppen aufgenommen hat - zwei frühere Konfliktorte, an denen wir ein großes Ausmaß sexueller Gewalt beobachtet haben. Über solche söldnerartigen Kampfgruppen hat die militärische Führung stets weniger Kontrolle als über ihre regulären Streitkräfte - ein weiterer Faktor, der sexuelle Gewaltausschreitungen begünstigt.
Robert Nagel ist Wissenschaftler am Institute for Women, Peace and Security der Georgetown-Universität in Washington. Er promovierte in Kent zum Einfluss von Geschlechterdynamiken auf die Lösung innerstaatlicher Konflikte und forscht zu sexueller Gewalt in Kriegen und Konflikten.
tagesschau.de: Die Kämpfer benutzen sexualisierte Gewalt also als Initiationsritus, so wie wir es von Gangs kennen?
Nagel: Ja. Insbesondere bei den russischen Streitkräften haben wir in den letzten Jahrzehnten beobachtet, dass mit der Zahl der Wehrpflichtigen auch die Zahl der Berichte über sexuelle Misshandlung innerhalb des russischen Militärs zugenommen hat. Es ist also zu einer Art Aufnahmeritus geworden - ähnlich wie beim "Hazing", das wir von US-Studentenverbindungen kennen, schweißen sexuelle Erlebnisse und das Prahlen damit sie zusammen; nur dass es im Krieg sehr viel schlimmer ist.
tagesschau.de: Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe wurden von der Weltöffentlichkeit lange als tragische Einzelfälle behandelt, die in Kriegszeiten nun mal vorkommen - dass sie nach einem bestimmten Muster auftreten und strukturell stets ähnlich ablaufen, wurde übersehen. Inwieweit ist heute untersucht, wann und wie sexuelle Gewalt in Konflikten auftritt?
Nagel: Lange wurde sie in Konflikten als allgegenwärtig und sozusagen unvermeidlich angesehen. Wir wissen heute, dass dem nicht so ist: Es gibt große Unterschiede zwischen verschiedenen Konflikten und sogar innerhalb einzelner Konflikte. Einer der wichtigsten strukturellen Aspekte ist wie erwähnt die Art der Rekrutierung: Bestehen die Kampfgruppen aus Freiwilligen oder Zwangsverpflichteten? Ein weiterer Aspekt die Frage, wie stark sie sich auf die Zivilbevölkerung stützen: Wenn etwa Rebellengruppen auf die Unterstützung der Zivilbevölkerung nicht angewiesen sind, weil sie zum Beispiel Zugriff auf Bodenschätze haben und straflos plündern oder Zivilisten misshandeln können, erhöht das die Gefahr sexueller Gewalttaten.
Ein dritter Faktor ist die Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet: Viele Berichte über Vergewaltigungen in der Ukraine kamen aus Gebieten, die von russischen Truppen kontrolliert wurden. In meiner Forschung habe ich festgestellt, dass nach der Eroberung von Gebieten das Risiko sexueller Gewalttaten steigert - als Methode, mit der Kampfgruppen ihre Kontrolle über ein Territorium und die Zivilbevölkerung durchsetzen. Bei der Terrormiliz "IS" etwa wurde die sexuelle Versklavung von Jesidinnen gezielt eingesetzt, um ihre Vorherrschaft und ihre gewaltsamen Führungsmethoden zu vollstrecken. Instabile Staaten sind anfälliger für das strukturelle Auftreten sexueller Gewalt - und auch in der Ukraine haben Gebietsverluste dazu geführt, dass die Streitkräfte des Landes die Bevölkerung nicht vor solchen Übergriffen schützen können.
"Merkmale von Völkermord gegeben"
tagesschau.de: In einer Ihrer jüngsten wissenschaftlichen Aufsätze schreiben Sie, die Einführung des Begriffs "Vergewaltigung als Kriegswaffe" für solche Taten habe zwar dazu geführt, das internationale Bewusstsein für den Handlungsbedarf zu steigern - aber auch ein unterkomplexes Erklärungsmuster geprägt, das nicht die empirische Realität widerspiegle.
Nagel: Zur Erklärung sexueller Gewalttaten in Konflikten gehört immer auch die Betrachtung von Männlichkeitsverständnissen und Sozialgefügen, die sich in bewaffneten Gruppen herausbilden. Diese Fragen sind komplexer als eine Gleichsetzung von Vergewaltigung mit einer Waffe - auch wenn das Konzept zur Interessenvertretung gut einsetzbar ist: Denn wer könnte die gleichermaßen grausamen Folgen abstreiten?
Häufig wird aus Berichten über sexuelle Gewalt vorschnell der Schluss gezogen: Hier wurde Vergewaltigung als Kriegswaffe eingesetzt, das Ziel dahinter waren ethnische Säuberungen oder ein Völkermord - noch bevor geklärt ist, ob es tatsächlich systematische dementsprechende Befehle und Maßgaben an die Kampfgruppen gab. Oft wissen wir das aber noch nicht. Und darin liegt für mich der begriffliche Unterschied. In vielen Fällen sind sexuelle Gewalttaten die Folge mangelnder Kontrolle der Führungsriege über bestimmte Kampfgruppen, aber nicht Teil einer Strategie von ganz oben, zu der das Anordnen von Vergewaltigungen gehört - auch wenn es natürlich Beispiele gibt, in denen es genau so war: Etwa in Bosnien, Äthiopien und Myanmar oder bei "IS".
tagesschau.de: Als wissenschaftlicher Terminus mag der Begriff also nur begrenzt hilfreich sein. Genutzt wird er ja aber vor allem mit dem Ziel, ins Bewusstsein zu rufen, dass sexuelle Gewalttaten in Kriegen genauso strukturell auftreten können wie andere Verbrechen gegen Zivilisten, aber ungleich schlechter dokumentiert und geahndet werden.
Nagel: Für Aktivisten und politische Interessenvertreter ist der Begriff nützlich, da er ihnen dabei geholfen hat, das Problem ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und Geld für humanitäre Hilfe und den Kampf gegen sexuelle Gewalt und in Konflikten zu sammeln. Daher setzen sie diese Wortwahl häufiger ein.
In der Ukraine habe ich Schilderungen von Vergewaltigungen gelesen, bei denen etwa russische Soldaten gesagt haben sollen: "Wir werden dich so sehr vergewaltigen, dass dich kein ukrainischer Mann je wieder anfasst!" Es sind also Einzelmerkmale von Völkermord gegeben (Die UN-Völkermordkonvention definiert Genozid unter anderem als "Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern einer Gruppe" und "vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen", Anmerkung der Redaktion) - und daher finde ich, dass wir in diesem Fall von Vergewaltigung als Kriegswaffe sprechen können.
"Sexuell aufgeladene Sprache"
tagesschau.de: Mit welchen Zielen vergewaltigen Kämpfer also Zivilistinnen?
Nagel: Das ist unterschiedlich. Bei einigen Tätern kann es schlicht ihre eigene sexuelle Befriedigung sein, bei anderen ein vergiftetes Band der Bruderschaft, das durch gemeinsame Täterschaft zwischen Kämpfern geknüpft wird. Oder es kann eben auch eine bewusste Vollstreckung "ethnischer Säuberungen" und Völkermord-Absichten sein. Terrormilizen wie "IS", Boko Haram oder Al-Shabab begehen Vergewaltigungen, um ihren Machtanspruch durchzusetzen und manifestieren - sie schaffen damit auf grausame Art eine soziale Ordnung zwischen Kämpfern und Zivilisten, Männern und Frauen. In Bosnien sendeten Kämpfer auch eine Botschaft an ihre Gegner, indem sie bei der Vergewaltigung von Frauen deren Brüder oder andere männliche Verwandte zusehen ließen. Das war eine Form der Erniedrigung, die den Männern ihre Machtlosigkeit und die Überlegenheit der Täter zeigen sollte.
tagesschau.de: Einige Täter machen sich also die politische Dimension ihres Handelns nicht bewusst, während andere diese ganz gezielt auskosten?
Nagel: In einer Untersuchung sexueller Gewalttaten in der DR Kongo unterscheiden Maria Eriksson Baaz und Maria Stern zwei Muster bei den Tätern: Bei einigen Vergewaltigungen steht der sexuelle Trieb im Vordergrund, bei anderen die Lust an der bösen, unmoralischen Absicht. Dann spielen auch noch Überlegenheitsgefühle und Hass gegen andere ethnische Gruppen eine Rolle, wie sie etwa anhand des Bosnienkriegs untersucht worden sind.
Ein Aspekt im russischen Krieg gegen die Ukraine ist auch sexuell aufgeladene Sprache, die Wladimir Putin benutzt hat, wenn er über das Land sprach (auf Kritik des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Minsker Abkommen entgegnete Putin vor seiner Invasion öffentlich ein russisches Sprichwort mit sexuellem Unterton, das so viel bedeutet wie: "Ob sie will oder nicht will - mein Liebchen, halt schön still", Anmerkung der Redaktion). Einige russische Soldaten haben das wohl gehört und dadurch den Eindruck, dass das so in Ordnung sei. Wenn sexuelle Gewalt sprachlich systematisch verharmlost wird, sehen sie unbewusst Sexualität als ihr klares Recht an, das sie auch erzwingen dürfen.
"Es braucht ein Sondertribunal"
tagesschau.de: Die Strafverfolgung von frauenfeindlicher Gewalt und sexuellen Verbrechen ist in Friedenszeiten schwierig genug. Wie kann sie im Krieg umgesetzt werden?
Nagel: Es braucht eine unabhängige, international geführte Factfinding-Mission, wie sie von den Vereinten Nationen auch in Myanmar eingesetzt wurde. Sexuelle Gewalt muss bei allen politischen Diskussionen auf die Agenda - das gilt nicht nur für Friedensverhandlungen, sondern auch für den Beschluss medizinischer und psychologischer Hilfeleistungen für die Bevölkerung. Und es muss ein Sondertribunal nach dem Vorbild der Tribunale geben, mit denen Verbrechen in Ex-Jugoslawien und Sierra Leone geahndet wurden. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag kommt hier meiner Ansicht nach nicht infrage, da Russland dessen Legitimität und seine Rechtssprechung nicht anerkennt - ebensowenig die USA.
Teil dieses Sondertribunals sollte auch eine Einrichtung wie die Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild sein, um einen Ort für die Überlebenden zu schaffen, an dem sie sich gegenseitig stützen können. Vielen von sexueller Gewalt Betroffenen geht es nicht so sehr um die juristische Verfolgung der Taten, sondern um Unterstützung und die Anerkennung dessen, was sie überstanden haben. So kann das Opfer-Stigma, mit dem sexuelle Gewalt - insbesondere in Kriegszeiten - einhergeht, durchbrochen werden und sie finden einen Weg, das erlebte Leiden zu überwinden. Unter keinen Umständen darf es eine Amnestie für sexuelle Gewalttaten geben. Denn wir wissen, dass Straffreiheit hier das Risiko für weitere sexuelle Gewalt zu einem späteren Zeitpunkt erhöht.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de.