Ende des Zweiten Weltkriegs Wie die Ukraine auf den 9. Mai blickt
In der Ukraine erinnern sich die Menschen an den Sieg über Nazideutschland mit gemischten Gefühlen. Viele ihrer Verwandten dienten vor 77 Jahren in der Roten Armee, doch die russische Invasion stellt vieles in Frage.
In der ukrainischen Stadt Dnipro erinnert ein Panzerdenkmal auf einem dicken Sockel an einen General der Roten Armee. Davor blüht ein Meer aus lila Tulpen und an der Straße rauscht der Verkehr vorbei. Den sowjetischen Tag des Sieges der Roten Armee über Nazideutschland am 9. Mai - Russland hat ihn beibehalten.
In der Ukraine wird am 8. Mai an den Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert. Veranstaltungen fielen kriegsbedingt aus. Präsident Wolodymyr Selenskyj erinnerte in einem schwarz-weiß gehaltenen Video im Ort Borodjanka an die Opfer des Zweiten Weltkriegs. Die russische Armee hatte diesen in den ersten Kriegswochen zerstört. "Die Worte 'Nie wieder' - sie klingen nun anders für uns", sagte Selenskyj. "Voller Schmerz und grausam. Mit einem Fragezeichen anstelle eines Ausrufezeichens. Ihr sagt nie wieder? In der Ukraine ist dies seit dem 24. Februar vorbei."
"Wir vergessen das nicht"
Das sehen auch die Nachbarinnen Luda und Lena so. "Unsere Großväter und Großmütter haben damals gekämpft und wir vergessen das nicht", sagt Lena. "Unsere Angehörigen sind in diesem Krieg gestorben und wir erinnern uns und ehren sie. Und in diesem Krieg jetzt sterben unsere Leute unglücklicherweise wieder. Unsere Ehemänner, Großväter und Kinder. Und alles nur, weil ein einziger Mensch das so entschieden hat."
"Das damals war ein völlig anderer Krieg", meint Luda. Es hätte nie wieder passieren dürfen. "Unsere Kinder und Enkelkinder hätten nie erfahren dürfen, was das ist. Nun ist das Wichtigste, den Himmel zu schließen. Über uns und unseren Kindern."
"Methoden außerhalb jeden Verständnisses"
Tag und Nacht Luftalarm: Das ist auch in Dnipro bitterer Alltag geworden und rund um den 9. Mai mahnt Selenskyi, dies ernst zu nehmen. Doch die Sirenen beeindrucken hier offenbar niemanden und auch Jekaterina legt in aller Ruhe duftenden lila Flieder vor dem Panzerdenkmal nieder.
Der braunhaarigen Frau mit Brille ist der 9. Mai nach wie vor wichtig. "Denn meine Großeltern haben gekämpft. Mein Großvater war Panzerfahrer, meine Großmutter Krankenschwester", erzählt Jekaterina. Der 9. Mai sei ein Feiertag für die Ukraine, da die Welt vom Nazismus befreit wurde.
"Was den jetzigen Krieg angeht, versteht niemand, was damit erreicht werden soll - wirklich niemand", sagt sie. "Mit Methoden, die außerhalb jeden Verständnisses liegen. Sogar Leute mit guten Beziehungen zu Russland sind nun mehrheitlich dagegen."
Mancher fürchtet Provokationen
An der Straßenkreuzung verkaufen fliegende Händler Kleinigkeiten. Wie Gürtel, Vasen oder gebrauchte Küchengeräte. Auch Alexander hat sein dürftiges Angebot auf dem blanken Boden ausgebreitet. Viele Geflüchtete aus dem Osten würden solche Kleinigkeiten kaufen, meint ein großer dicker Mann mit grauem Bart und kariertem Hemd.
Rund um den 9. Mai befürchtet er prorussische Provokationen. "Mein Großvater war im Zweiten Weltkrieg bei der Aufklärung tätig", sagt Alexander. Was der zu den Zerstörungen und Zuständen der vergangenen Monate sagen würde, wüsste er nicht.
Mitleid mit beiden Seiten
Einige Meter weiter liegen Wörterbücher und ein abgegriffener Roman zum Verkauf. Eine alte Dame im Pepitamantel und neongelber Strickmütze ist interessiert. Der Verkäufer sieht seine Stunde gekommen. Ausführlich referiert er den Buchinhalt. Doch es zündet nicht bei der 92-jährigen Valentina.
Auf ihren Stock gestützt nestelt sie ihren roten Veteranenausweis hervor. "Ich bin Russin aus Leningrad, habe die deutsche Blockade erlebt und später gekämpft", meint sie leise. Dann heiratete sie in die Ukraine, wo sie seit 60 Jahren lebt. Der 8. Mai statt dem 9. als Erinnerungstag, das passt ihr nicht.
"Sie haben aus dem Siegestag einen Witz gemacht", sagt Valentina. "Das war vielleicht ein Tag, der 9. Mai - und jetzt ist es ein Tag der Erinnerung." Sie fühle sich wie zwischen zwei Feuern. "Ich habe Mitleid sowohl mit der einen, als auch mit der anderen Seite. Ich bin Russin und es gibt Krieg mit Russland."
Die Mutter starb während der Blockade
Valentina läuft weiter an dem Panzerdenkmal vorbei nach Hause. Ihr Vater sei 1937 während des Großen Terrors verhaftet und der Rest der Familie nach Sibirien gebracht worden, erzählt sie. "Dann wurde er rehabilitiert und wir konnten zurück und wir haben unsere Wohnung zurückbekommen, die leer war."
Dann habe der Zweite Weltkrieg begonnen. "Zwei meiner Brüder sind von den Deutschen erschossen worden. Mein Vater hat sich davon nicht erholt. Meine Mutter ist während der Blockade von Leningrad gestorben."
Angst vor Putins Generalmobilmachung
Was den 9. Mai angeht, machte sich das Ehepaar Ludmilla und Oleh aus Ternopil Sorgen, was der russische Präsident Wladimir Putin verkünden könnte. "Wir wissen ja nie was Putin vorhat, er bedroht uns doch schon so lange Zeit", sagen sie. Für das Paar ist der 9. Mai vor allem ihr Hochzeitstag. "Dann sind wir 37 Jahre verheiratet. Wir feiern das trotz allem. Was die Politik angeht, erwarten wir vom 9. Mai nichts." Die befürchtete Ankündigung einer Generalmobilmachung blieb aus.