Krieg in der Ukraine Evakuierung von Mariupol wohl erneut gescheitert
Erneut ist der Versuch einer großflächigen Evakuierung aus Mariupol laut Ukraine gescheitert. Auch dringend benötigte Hilfslieferungen seien nicht durchgekommen. Ersten Zivilisten gelang aber die Flucht aus der belagerten Stadt.
Geplante Evakuierungen aus der belagerten Hafenstadt Mariupol sind ukrainischen Angaben zufolge auch am 19. Kriegstag weitgehend gescheitert. Zwar hätte eine Kolonne von Privatautos Mariupol in Richtung der mehr als 70 Kilometer westlich gelegenen Stadt Berdjansk verlassen können, sagte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk der Agentur Unian zufolge. "Aber unsere humanitäre Fracht ist weiter nicht in Mariupol angekommen, sie ist noch in Berdjansk."
Die Situation in Mariupol sei katastrophal, betonte Wereschtschuk: "Die Menschen kämpfen um Essen und Wasser, dort spielt sich ein Albtraum ab." Wereschtschuk widersprach ausdrücklich Angaben des russischen Verteidigungsministeriums, wonach eine Massenevakuierung von Zivilisten eingeleitet worden sei. Der russische Generalmajor Michail Misinzew hatte zudem gesagt, ein erster Hilfskonvoi habe erfolgreich 450 Tonnen Medikamente, Lebensmittel und Babynahrung geliefert.
Erste Zivilisten können Stadt verlassen
Im Tagesverlauf war ukrainischen Angaben zufolge aber ersten Zivilisten die Flucht aus der Stadt auf eigene Faust gelungen: Mehr als 160 Privatautos hätten Mariupol in Richtung Berdjansk verlassen können, hieß es am frühen Nachmittag. Der Konvoi mit Hilfsgütern sei wegen russischer Angriffe hingegen nicht durchgekommen - ebenso wie Busse, die größere Zahlen an Zivilisten hätten aus der Stadt fahren sollen.
Bereits in den vergangenen Tagen hatte der Hilfskonvoi nach Mariupol aufgrund andauernder Kämpfe mehrfach erfolglos in Richtung Berdjansk umkehren müssen. Auch Evakuierungsversuche scheiterten trotz vereinbarter Feuerpausen und Fluchtkorridore immer wieder. Russland und die Ukraine gaben sich dafür gegenseitig die Schuld.
Angriffe auf Städte fortgesetzt
Auch setzte Russland die Angriffe auf ukrainische Städte fort. Nach ukrainischen Angaben wurden Vororte im Nordwesten der Hauptstadt Kiew unter Artilleriebeschuss genommen. Außerdem seien Ziele östlich der Hauptstadt beschossen worden, sagte der Chef der Regionalverwaltung im Großraum Kiew, Oleksij Kuleba. Ein Stadtrat aus Browary östlich von Kiew sei bei Kämpfen dort getötet worden. Kuleba berichtete zudem von nächtlichen Angriffen auf die nordwestlichen Städte Irpin, Butscha und Hostomel.
Am Morgen wurde ein neunstöckiges Wohnhaus im Norden Kiews von Artilleriefeuer getroffen - dabei wurden mehrere Wohnungen zerstört, ein Feuer brach aus. Nach Angaben des Rettungsdienstes wurde mindestens eine Person getötet, es habe zwölf Verletzte gegeben. Die Stadtverwaltung in Kiew meldete, dass russische Truppen auch das Antonow-Flugzeugwerk unter Beschuss genommen hätten. Nahe der wichtigen südlichen Stadt Mykolajiw wurden ebenfalls Wohngebäude getroffen, ebenso in der zweitgrößten Stadt Charkiw.
Bei einem Angriff russischer Truppen auf einen Fernsehturm nahe der ukrainischen Stadt Riwne wurden nach Angaben örtlicher Behörden neun Menschen getötet. Neun weitere seien bei dem Beschuss des Turm verletzt worden. Zwei Raketen hätten den Fernsehturm und ein Verwaltungsgebäude direkt daneben getroffen.
Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die russischen Streitkräfte seien innerhalb von 24 Stunden elf Kilometer vorgerückt und hätten fünf Städte nördlich von Mariupol erreicht. Der Generalstab der ukrainischen Armee erklärte dagegen am Morgen, russische Truppen hätten trotz einer Ausweitung der Angriffe Richtung Westen in den vorangegangenen 24 Stunden keine großen Geländegewinne verzeichnet.
Ukraine meldet Explosionen nahe AKW
Ukrainischen Angaben zufolge soll Russland auch Teile eines Munitionslagers unweit des besetzten Atomkraftwerks Saporischschja gesprengt haben. Die Explosion habe sich bei der Ruine eines Militär-Ausbildungsplatzes ereignet, teilte der ukrainische Atomkraftbetreiber Enerhoatom auf Telegram mit. Auch diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Von russischer Seite gab es zunächst keine Stellungnahme. Das Personal im Kraftwerk habe wegen der Explosion zwischenzeitlich seine Arbeit niedergelegt, hieß es von Enerhoatom. Ob die Strahlenbelastung sich durch den Vorfall verändert habe, sei bislang nicht bekannt.
Bei dem von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine herrschte zuletzt Unklarheit darüber, wer für Betrieb und Sicherheit verantwortlich ist. Enerhoatom meldete der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, das Atomkraftwerk stehe "unter der Kontrolle des Befehlshabers der russischen Streitkräfte". Der russische Staatskonzern Rosatom dementierte dagegen im Austausch mit der IAEA, die operationelle Kontrolle übernommen zu haben.
"Nicht so schnell, wie man sich das wünschen würde"
Erstmals räumte ein ranghoher Beamter aus Putins Sicherheitsapparat ein, dass Russland nicht so vorankomme wie geplant. Der Kremlchef hatte stets behauptet, alles laufe nach Plan - auch zeitlich. Dagegen sagte nun der Chef der russischen Nationalgarde, Viktor Solotow: "Ich möchte sagen, dass, ja, nicht alles so schnell läuft, wie man sich das wünschen würde." Er sprach davon, dass sich "Nazisten" in der Region hinter friedlichen Bürgern, darunter Frauen und Kindern, in Schulen, Kindergärten und Wohnhäusern verstecken würden. Zugleich sagte er, dass die russische Armee siegen werde.
Das russische Präsidialamt betonte, die Streitkräfte könnten die volle Kontrolle über ukrainische Großstädte übernehmen. Das russische Verteidigungsministerium gewährleiste zwar die größtmögliche Sicherheit der Zivilbevölkerung, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau. Es "schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, größere Bevölkerungszentren vollständig unter Kontrolle zu bringen". Präsident Putin habe am Anfang des Militäreinsatzes das Verteidigungsministerium ausdrücklich angewiesen, auf die Erstürmung von größeren Städten wie Kiew zu verzichten. Die Darstellung, Putin sei über die militärischen Fortschritte enttäuscht, wies Peskow zurück.
Die schraffierten Bereiche zeigen die von den Russen kontrollierten Gebiete in der Ukraine.
Nach russischen Angaben sollen seit Beginn des Krieges fast 250.000 Menschen nach Russland geflüchtet sein. Darunter befänden sich fast 55.000 Kinder, sagte Generalmajor Misinzew der Agentur Tass zufolge. Allein an den beiden vergangenen Tagen seien 8575 Zivilisten, davon 1292 Kinder, aus der Ukraine sowie aus den von Moskau als unabhängig anerkannten Separatistengebieten nach Russland eingereist. Auch diese Zahlen sind nicht unabhängig zu überprüfen.