Ostukraine Viele Tote bei Angriff auf Bahnhof
In der ostukrainischen Stadt Kramatorsk ist ein Bahnhof von Raketen getroffen worden. Mindestens 30 Menschen, die aus der Region fliehen wollten, wurden dabei getötet. Der Kreml weist die Verantwortung für den Angriff zurück.
Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk sind nach offiziellen Angaben mehrere Menschen getötet und verletzt worden. Es soll mindestens 30 Tote und 100 Verletzte geben. Dem ukrainischen Geheimdienst SBU zufolge wurden sogar mindestens 39 Menschen getötet. Nach Angaben von Gouverneur Pawlo Kyrylenko hatten Tausende Menschen in Kramatorsk auf ihre Evakuierung gewartet.
Kramatorsk liegt in dem Teil des umkämpften ostukrainischen Gebiets Donezk, der von der Ukraine kontrolliert wird. Prorussische Separatisten erheben Anspruch auf das gesamte Verwaltungsgebiet. Die Menschen, die Koffer und Taschen bei sich hatten, wollten aus Angst vor Angriffen die Stadt verlassen. Laut Eisenbahnchef Kamischyn schlugen zwei Raketen ein.
"Das ist der 44. Tag unserer Realität"
Die ukrainische Seite gab russischen Truppen die Schuld. Gouverneur Kyrylenko warf Russland vor, absichtlich auf Zivilisten gezielt zu haben. "Sie wollten so viele friedliche Menschen wie möglich als Geiseln nehmen, sie wollten alles Ukrainische zerstören", schrieb er bei Telegram.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beschuldigte Russland. Das russische Militär habe einen ganz gewöhnlichen Bahnhof angegriffen, sagte Selenskyj zu Beginn einer Videoansprache vor dem finnischen Parlament. Menschen hätten an dem Bahnhof auf Züge gewartet, um von diesem in sichere Gebiete evakuiert zu werden. "Das ist nur ein gewöhnlicher Bahnhof, nur eine normale Stadt im Osten der Ukraine", sagte Selenskyj. Der Angriff zeige, was Russland unter Schutz der Donbass-Region und der russischsprachigen Bevölkerung verstehe. "Das ist der 44. Tag unserer Realität", sagte Selenskyj.
Die ukrainische Führung hatte die Menschen in der Ostukraine zuvor aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen und das Gebiet möglichst Richtung Westen zu verlassen. Russland hatte angekündigt, seine Angriffe auf die Region zu konzentrieren.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Russland weist Verantwortung von sich
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte den Raketenangriff scharf. Es handele sich um einen "weiteren Versuch, die Fluchtwege für diejenigen zu versperren, die vor diesem ungerechtfertigten Krieg fliehen, und menschliches Leid zu verursachen", schrieb Borrell bei Twitter. Er warf Russland vor, mit der willkürlichen Attacke gezielt Menschen leiden zu lassen.
Der Kreml wies die Verantwortung für den Angriff zurück. "Unsere Streitkräfte nutzen diesen Raketentyp nicht", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Agenturen zufolge. Er bezog sich dabei auf den mutmaßlich verwendeten Typ "Totschka-U". Militärexperten bezweifeln diese Darstellung.
Viele Tote in Borodjanka geborgen
Der ukrainische Präsident Selenskyj geht laut eigenen Angaben von weiteren Gräueltaten russischer Truppen in der Ukraine aus. In der Kleinstadt Borodjanka bei Kiew, wo Aufräumarbeiten liefen und Rettungskräfte Trümmer beseitigten, sei es "viel schrecklicher" als in Butscha, sagte er in einer Videobotschaft. Konkrete Details nannte er nicht.
Die Bilder aus einem anderen Kiewer Vorort, Butscha, wo nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte Leichen von Bewohnern auf den Straßen gefunden worden waren, hatten international Entsetzen ausgelöst. Die Ukraine macht für das Massaker russische Truppen verantwortlich. Moskau bestreitet das.
In Borodjanka seien allein aus den Trümmern von zwei ausgebombten Wohnhäusern 26 Leichen geborgen worden, erklärte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Wie viele Opfer es insgesamt gab, sei derzeit schwer abzuschätzen. Früheren Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft zufolge soll es in der Stadt die meisten Opfer in der Region Kiew geben. Wenediktowa erklärte nun, man müsse und werde jedes Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentieren und die Verantwortlichen bestrafen. In Borodjanka habe man auch sexuelle Gewalt bestätigt.
Sorge um Mariupol
Selenskyj stellte in der Videobotschaft zudem die Frage, was passieren werde, wenn die Welt erfahre, was russische Einheiten in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol getan hätten. Dort gebe es in "fast jeder Straße" das, was die Welt nach dem Abzug der russischen Truppen in Butscha und anderen Städten in der Region Kiew gesehen habe.
Nach Angaben der von prorussischen Kräften eingesetzten Stadtverwaltung Mariupols wurden bei den dortigen Kämpfen bislang rund 5000 Zivilisten getötet. Der von den Separatisten eingesetzte, moskautreue Bürgermeister Konstantin Iwaschtschenko sagte der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass in vorab veröffentlichten Auszügen eines Interviews, dass in der Stadt zudem "60 bis 70 Prozent" aller Wohnungen zerstört oder beschädigt seien. Iwaschtschenko schätzte außerdem, dass 250.000 Menschen die Stadt verlassen hätten, aber mindestens ebenso viele, wenn nicht sogar 300.000, noch in der Stadt seien.
Die Ukraine schätzt hingegen, dass sich noch 100.000 Menschen in der Stadt befinden, in der die humanitäre Lage katastrophal ist. Die ukrainischen Behörden hatten die Zahl der zivilen Opfer zudem auf "Zehntausende" geschätzt und die Zerstörung auf "90 Prozent".
Die russische Armee belagert Mariupol seit Wochen und ist mit erbittertem ukrainischem Widerstand konfrontiert. Die Einnahme ist für Russland von strategischer Bedeutung, da sie eine Landverbindung zwischen der 2014 annektierten Krim-Halbinsel und der von den Separatisten kontrollierten Region in der Ostukraine herstellen würde.
Russische Truppen ziehen sich aus Norden zurück
Unterdessen scheinen sich die russischen Truppen fast vollständig aus dem Norden der Ukraine zurückgezogen zu haben. In der nordostukrainischen Region Sumy befinden sich ukrainischen Angaben zufolge keine russischen Truppen mehr. Der Chef der Gebietsverwaltung, Dmytro Schywyzkyj, warnte aber die Menschen, dass die Region noch nicht sicher sei. Es gebe noch viele verminte und nicht auf Gefahren abgesuchte Gebiete. Die Menschen sollten nicht am Straßenrand fahren, keine Waldwege nutzen und sich keiner zerstörten Militärtechnik nähern.
Die Region gehörte neben den Gebieten Donezk, Luhansk, Charkiw und Kiew zu jenen, in denen russische Truppen seit Kriegsbeginn angegriffen haben.