Ein ausgebranntes Auto im Wald in Jampil/Ukraine.
Reportage

Dorf Jampil im ukrainischen Donezk "Die Stille ist beängstigender als das Knallen"

Stand: 21.10.2022 10:06 Uhr

Jampil in der Region Donezk war monatelang in den Händen russischer Soldaten - bis die Ukraine das Dorf zurückerobern konnte. Die Besatzer sind nun weg, doch die Menschen haben immer noch Angst - aus verschiedenen Gründen.

Von Rebecca Barth, ARD-Studio Kiew, zzt. in Jampil

Hundebellen und Detonationen am Horizont - die dominierenden Geräusche in Jampil in der Region Donezk. Seit wenigen Wochen ist das Dorf im Osten der Ukraine wieder unter Kontrolle der ukrainischen Armee. Viele Häuser sind zerstört, die meisten Menschen geflohen - die Hunde zurückgelassen.

Viele Dorfbewohner wurden im Krieg getötet, sagt ein alter Mann. Man konnte nur noch Stücke einsammeln. Von den Menschen sei nichts übriggeblieben. Er hat überlebt - monatelang in seinem Keller.

Ein älterer Mann in Jampil, Ukraine.

Dieser Mann hat den Angriff der russischen Armee überlebt - er war monatelang in seinem Keller.

Wenig Kontakt zu Russen

Jampil ist eines von Dutzenden Dörfern, das die Ukrainer zurückerobern konnten. Wie im Frühjahr bei Kiew gibt es jetzt auch in der Ostukraine Berichte über Verbrechen der russischen Streitkräfte an der Zivilbevölkerung. Aber hier in Jampil habe man wenig Kontakt zu den russischen Soldaten gehabt, sagen viele Dorfbewohner.

"Unser Dorf ist etwa neun Kilometer lang, sie waren am Dorfrand, aber nicht hier im Zentrum", erzählt der alte Mann. Die Russen hätten nur Ausweise kontrolliert, beteuert er. So oder so ähnlich berichten es viele - auch in anderen zurückeroberten Siedlungen in der Ostukraine.

Angst, etwas Falsches zu sagen?

Wiktor, ein ukrainischer Presseoffizier, widerspricht - seine Einheit war an der Eroberung des Dorfes beteiligt: "Die Russen haben aus den Häusern geschossen. Wir wissen also, dass sie dort waren. Vielleicht haben die Menschen einfach Angst. Wir wissen, dass die Russen von den Einheimischen Lebensmittel verlangt haben. Sie sind also direkt zu ihnen gekommen."

Angst - das ist das vorherrschende Gefühl in den zurückeroberten Gebieten der Ostukraine. Angst, etwas Falsches zu sagen und bestraft zu werden, sollten die Besatzer zurückkommen. Das zumindest glaubt der Presseoffizier der ukrainischen Armee.

EIne Mutter mit Kind in Jampil/Ukraine

Natalja kann sich nur schwer an die neue Realität gewöhnen - "die Stille ist beängstigender als das Knallen", sagt sie.

"In der Nacht hat es geknallt"

Wenige Straßen weiter, auf einem kleinen Hof lebt Natalja mit ihren Kindern. Auch die siebenjährige Tochter Slata kennt das Gefühl der Angst: "Das war alles ganz schwer. In der Nacht hat es geknallt. Da hinten ist es eingeschlagen und dann hat es gebrannt, oder Mama?"

Mutter Natalja nickt. Wie viele andere hat die Familie monatelang im Keller überlebt. Ein feuchtes Loch ohne Licht, Heizung und Strom. Das alles gibt es bis heute nicht in Jampil in der Region Donezk. Die Kämpfe toben nun woanders, aber der Wiederaufbau der Siedlungen in der Region wird vermutlich Jahre dauern.

Und an die neue Realität kann sich Mutter Natalja nur schwer gewöhnen: "Das Schlimmste ist die Stille. Wir können nachts nicht mehr schlafen. Weil die Stille beängstigender ist als das Knallen, denn daran haben wir uns schon gewöhnt. An das ständige Bum Bum Bum. Und plötzlich Stille. Der Schlaf ist weg. Ich weiß nicht, warum."

Ukraine: Innenansichten nach mehr als sieben Monaten Krieg

R.Barth, V.Golod, ARD Kiew, Weltspiegel 18:30 Uhr

Russische Soldaten in den Wäldern

Die russischen Soldaten zogen rasch ab aus Jampil, ließen vieles in der Region zurück. Aber nicht nur gepanzerte Fahrzeuge und Waffen, sondern auch eigene Soldaten, erzählt Presseoffizier Wiktor: "Als wir hierher kamen, gab es keine regulären russischen Soldaten mehr. Es gab nur die Mobilisierten aus der sogenannten Luhansker Volksrepublik. Das zeigt, dass die Russen wussten, dass wir angreifen und sie haben die Mobilisierten zurückgelassen, um sich selbst geschützt zurückziehen zu können."

Noch Tage später habe man versprengte Kämpfer der sogenannten Volksmiliz aus Luhansk in den Wäldern der Region gefunden. Manche versuchten offenbar, sich zu tarnen. Sie versuchten, in ziviler Kleidung unterzutauchen. Das berichten Armee und ukrainische Medien. Die Ukrainer müssen jetzt um das Vertrauen der traumatisierten Bevölkerung kämpfen.

Angst vor tschetschenischen Kämpfern

Wiktor berichtet: "Die ersten, die Lebensmittel hierher gebracht haben, waren ukrainische Soldaten. Wir haben hier unser eigenes Essen verteilt. Vielleicht hatten die Menschen Angst vor uns, aber ich habe gesehen, wie sie uns mit Tränen in den Augen empfangen haben, weil wir die ersten waren, die ihnen seit Monaten frisches Brot gebracht haben."

Natalja und ihre Familie haben überlebt, weil sie Selbstversorger sind. Die Mutter ist froh, dass die Ukrainer nun wieder die Macht haben im Dorf. Doch auch sie fürchtet sich vor der Zukunft und vor den Kämpfern des tschetschenischen Diktators Ramsan Kadyrow.

"Ich habe große Angst", sagt Natalja. "Vor allem, wenn man hört, dass die Kadyrowzy hierhergeschickt werden sollen, um uns erneut zu bekämpfen. Aber wir glauben an unsere Streitkräfte."

Besatzer sind vertrieben

Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben alle Angehörigen der russischen Armee in der Region rund um Jampil vertreiben, festnehmen oder töten können. Wie viele Anwohner die Besatzer unterstützt haben, will Presseoffizier Wiktor nicht sagen. Doch die Kollaborateure seien mit der russischen Armee geflohen - aus Angst vor den ukrainischen Truppen.

Die Besatzer sind vertrieben, doch die Spuren des Krieges werden noch lange bleiben.

Rebecca Barth, ARD Kiew, 21.10.2022 08:33 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Weltspiegel am 21. Oktober 2022 um 18:30 Uhr.