Ukraine Gefährliche Flucht aus den besetzten Gebieten
In der Ukraine versuchen viele Zivilisten, die besetzten Gebiete zu verlassen. Doch die Flucht birgt große Risiken bis hin zur Lebensgefahr. Offenbar kommt es zu tagelangen Wartezeiten an russischen Checkpoints.
Olena hat sie hinter sich, die Flucht. Die 56-Jährige ist in die Westukraine geflohen - aus Enerhodar. Dort steht Europas größtes Atomkraftwerk, russische Verbände nahmen die Stadt bereits in den ersten Kriegswochen ein. Olena ist erst vor einigen Tagen herausgekommen.
"Wir mussten elf oder zwölf Checkpoints passieren", erzählt sie. "Man kontrolliert die Dokumente, sammelt Ausweise ein, bringt sie irgendwohin weg." Das habe sie nervös gemacht, aber sie habe die Papiere zurückerhalten. Auch das Gepäck werde kontrolliert. "Und in den Handys haben sie nach ukrainischen Symbolen gesucht. Unser Fahrer hat uns vorgewarnt, dass wir kein Ukrainisch sprechen und keine Kleidung in gelb-blauer Farbe anziehen dürfen, damit wir sie nicht nerven. Am besten sollten wir schweigen und in Richtung Boden schauen, wenn man Fragen beantwortet."
Olena beschreibt, dass an Checkpoints verschiedene Kämpfer stünden - aus dem Kaukasus, aus den abtrünnigen Republiken, aber auch schwer bewaffnete russische Soldaten.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Tagelange Wartezeiten an den Checkpoints
Die Zivilisten fliehen auf gut Glück. Besonders schwer scheint es momentan im Südosten der Ukraine zu sein. Der Bürgermeister einer der besetzten Städte in der Region, Iwan Fjodorow, beklagt, dass Menschen mehrere Tage in der Ausreiseschlange verbringen müssen. An einem der wichtigsten Checkpoints der Region - beim Dorf Wassyliwka - komme es kaum voran:
Aktuell haben sich dort mehr als 5000 Menschen angesammelt, mehr als 1200 Autos. Es kommt mittlerweile vor, dass Menschen länger als eine Woche im Auto am Straßenrand schlafen müssen. Und es ist kein Ende in Sicht. Wir bekommen Bestätigungen dafür, dass inzwischen fünf Menschen starben, während sie in der Schlange auf die Ausreise auf ukrainisch kontrolliertes Territorium warteten."
Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Olena bestätigt jedoch das qualvolle Warten in Wassyliwka: "Ich wundere mich nicht, wenn ich mitbekomme, dass Menschen in den Schlangen sterben", sagt sie. "Denn man wartet oft fünf Tage lang, bis man den Checkpoint in Wassyliwka passiert. Es ist kaum auszuhalten. Es ist heiß, es sind 35 Grad draußen."
Regierung ruft zur Flucht auf
Wassyliwka ist offenbar zu einem Nadelöhr geworden. An diesem Checkpoint vorbei müssen die Zivilisten aus sämtlichen Städten und Siedlungen der Region. Olena erzählt, die meisten seien Frauen mit kleinen Kindern. Viele hätten nicht genug Wasser oder Lebensmittel dabei.
Trotz der Fluchtrisiken ruft die stellvertretende Regierungschefin der Ukraine, Irina Wereschtschuk, dazu auf, sich auf den Weg zu machen. "Man muss sich so schnell wie möglich in Sicherheit bringen", mahnte sie. "Weil die Menschen sonst zum lebendigen Schutzschild werden. Denn unsere Armee wird die Territorien unbedingt befreien."
Im Süden betrifft es die Gebiete Cherson und Saporischschja. Dort wird bald eine Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte erwartet. Aber auch aus den Regionen Donezk und Luhansk soll sich retten, wer kann - heftige Gefechte werden dort anhalten.
Referenden befürchtet
Außerdem wird wohl von russischer Seite an Referenden gearbeitet. Die Territorien könnten an Russland angeschlossen werden, laut Separatisten bereits Anfang September. Auch darin sieht Wereschtschuk eine Gefahr: "Sie versuchen, schnell ihre fingierten Referenden abzuhalten, das heißt, sie werden auf die Menschen Druck ausüben und sie dazu zwingen, daran teilzunehmen."
Offiziell sind im Land laut Wereschtschuk knapp dreieinhalb Millionen Binnenflüchtlinge gemeldet. Sie rechnet damit, dass noch eine halbe Million Menschen aus den besetzten Territorien fliehen könnten.