Umstrittenes Gesetz verabschiedet In der Türkei droht Haft für "Desinformation"
Unter massivem Protest der Opposition hat das türkische Parlament ein Gesetz gegen "Desinformation" beschlossen. Es sieht Haftstrafen von bis zu drei Jahren vor. Kritiker werten das als weiteren Versuch der Zensur im Vorfeld der Wahlen.
Das türkische Parlament hat ein umstrittenes Gesetz verabschiedet, das Haftstrafen für die Verbreitung "falscher oder irreführender Nachrichten" vorsieht. Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür, dass Gerichte akkreditierte Journalisten sowie normale Nutzer von Online-Netzwerken zu ein bis drei Jahren Gefängnis verurteilen können.
Die regierende AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan hält im Parlament mit ihrem Partner, der ultranationalistischen Partei MHP, eine Mehrheit. Von beiden stammt der Entwurf. Acht Monate vor den Wahlen verschärft die Regierung damit ihr ohnehin hartes Vorgehen gegen Medien.
Opposition spricht von "Zensur-Gesetz"
Befürworter des Gesetzes argumentieren, Desinformation habe sich zu einer "ernsthaften Bedrohung" für den Zugang zu "wahren" Informationen entwickelt. Die Bekämpfung einer solchen "Bedrohung" sei notwendig, um Grundrechte und Grundfreiheiten zu schützen.
Opposition und Kritiker sprechen hingegen von einem "Zensur-Gesetz". Außer gegen Zeitungen, Radio und Fernsehen richtet sich das neue Gesetz vor allem gegen Online-Netzwerke und Online-Medien. Sie werden aufgefordert, Nutzer, denen die Verbreitung von "Falschnachrichten" vorgeworfen wird, zu denunzieren und deren Daten weiterzugeben.
Demonstrativer Auftritt von CHP-Abgeordnetem
Der Abgeordnete Burak Erbay von der säkularen CHP hob hervor, das neue Gesetz schränke insbesondere die Kommunikation junger Menschen ein. "Ich möchte mich an meine Brüder wenden, die 15, 16, 17 sind und die 2023 über das Schicksal der Türkei entscheiden", sagte Erbay im Parlament. "Euch bleibt nur noch eine Freiheit - das Telefon in eurer Tasche." Junge Leute kommunizierten vor allem über Online-Netzwerke wie Instagram. "Wenn das Gesetz hier das Parlament passiert, könnt ihr euer Telefon auch so kaputt machen", fügte Erbay hinzu und zerschlug sein Handy im Parlamentsplenum mit einem mitgebrachten Hammer.
Das neue Gesetz zielt vor allem auf Online-Netzwerke und damit auf die bevorzugen Medien junger Menschen. Der Oppositionsabgeordnete Burak Erbay zerschlug während seiner Rede deshalb demonstrativ sein Handy.
Viele TV-Sender schon unter Kontrolle der Regierung
Die meisten türkischen Zeitungen und Fernsehsender waren bereits unmittelbar nach dem Putschversuch 2016 unter die Kontrolle der Regierung gestellt worden. Online-Medien blieben hingegen weitgehend frei. Später zwang die Regierung Onlinedienste wie Facebook und Twitter allerdings dazu, örtliche Vertreter einzusetzen, die Gerichtsanordnungen zur Entfernung beanstandeter Inhalte schnell umsetzen.
Artikel 29 des Gesetzespakets sieht Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren vor für die "Verbreitung falscher oder irreführender Informationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes" vor, außerdem für Nachrichten, "die der öffentlichen Gesundheit schaden, die öffentliche Ordnung stören sowie Angst oder Panik in der Bevölkerung verbreiten könnten".
Der Europarat, dem auch die Türkei angehört, kritisierte Anfang Oktober die vage Definition von "Desinformation" in dem neuen Gesetz. Die damit einhergehende Androhung von Haftstrafen könne "vermehrte Selbstzensur", insbesondere mit Blick auf die Parlamentswahl im Juni 2023, zur Folge haben.
Erdogan vor schwieriger Wahl
Erdogan will sich im kommenden Jahr im Amt bestätigen lassen. Es dürfte für ihn die schwierigste Wahl seit Beginn seiner Amtszeit vor fast zwei Jahrzehnten werden. Die Umfragewerte seiner Regierungspartei sind wegen einer galoppierenden Inflation und einer Währungskrise auf einem historischen Tief.
Nichtregierungsorganisationen prangern regelmäßig die Erosion der Pressefreiheit in der Türkei an. In der Rangliste der Pressefreiheit, die von der Organisation "Reporter ohne Grenzen" erstellt wird, liegt die Türkei aktuell auf Platz 149 von 180. Der Medienrechtsaktivist Veysel Ok kritisierte, mit dem neuen Gesetz könnten nun alle Regierungskritiker verfolgt werden - "die Opposition, die NGOs, Juristenverbände, Journalisten und normale Bürger".