Kämpfe um Mariupol Weltweites Entsetzen nach Angriff auf Klinik
Nach dem Angriff auf eine Klinik in der belagerten ukrainischen Stadt Mariupol gibt es weltweites Entsetzen. Die USA warnen derweil davor, Russland plane möglicherweise den Einsatz von Bio- und Chemiewaffen.
Ein russischer Luftangriff auf eine Entbindungsklinik in der belagerten ukrainischen Stadt Mariupol hat weltweit Entrüstung ausgelöst. UN-Generalsekretär António Guterres sprach von einer "entsetzlichen" Tat und forderte, die sinnlose Gewalt müsse aufhören. US-Außenminister Antony Blinken warf Russland gewissenloses Handeln vor.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft am späten Abend: "Was für ein Land ist das, die Russische Föderation, die Angst hat vor Krankenhäusern, Angst hat vor Entbindungskliniken und sie zerstört?"
Reporter der Nachrichtenagentur AP in Mariupol erlebten den Angriff auf die Klinik mit, ein AP-Fotograf dokumentierte die Zerstörung. Noch in einer Entfernung von mehr als einem Kilometer bebte die Erde, als das Gebäude mehrmals getroffen wurde. Fenster zersprangen, ein großer Teil der vorderen Fassade eines Gebäudes wurde weggerissen. Polizisten und Soldaten brachten Opfer in Sicherheit. Eine hochschwangere und blutende Frau wurde auf einer Trage weggebracht. Im Hof der Klinikanlage brannten verbeulte Autos. Ein bei den Explosionen entstandener Krater war mindestens zwei Stockwerke tief.
Selenskyj fordert noch härtere Sanktionen
"Heute hat Russland ein gewaltiges Verbrechen verübt", sagte ein Polizeifunktionär aus Mariupol, Wolodymyr Nikulin, in den Trümmern des Gebäudes. "Es ist ein Kriegsverbrechen ohne Rechtfertigung." Nach ukrainischen Angaben wurden 17 Menschen verletzt, darunter mehrere schwangere Frauen. Selenskyj schrieb bei Twitter, unter den Trümmern befänden sich Kinder. Der Angriff sei eine Gräueltat.
Als Reaktion forderte er in seiner täglichen Videobotschaft noch härtere Sanktionen des Westens. "Es findet ein Völkermord an Ukrainern statt", sagte er.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Nach Angaben der örtlichen Behörden in Mariupol sind in der belagerten Stadt binnen neun Tagen mehr als 1200 Zivilisten gestorben. 1207 Zivilisten seien während der russischen "Blockade" der Stadt getötet worden, hieß es in einem auf dem offiziellen Telegram-Kanal der Stadtverwaltung veröffentlichten Beitrag, der mit einer Videobotschaft des Bürgermeisters Wadym Boitschenko versehen war. "Neun Tage Völkermord an der Zivilbevölkerung", hieß es weiter.
Auch andere Kliniken angegriffen
Nach Zählung der Weltgesundheitsorganisation sind seit Beginn des Kriegs in der Ukraine mindestens 18 Kliniken, andere Gesundheitseinrichtungen oder Krankenwagen angegriffen worden. Mindestens zehn Menschen seien bei diesen Attacken getötet worden, teilte die WHO mit. Unklar war zunächst, ob in die Zahl bereits der Beschuss der Klinik in Mariupol eingerechnet war.
Die schraffierten Bereiche zeigen die von den Russen kontrollierten Gebiete in der Ukraine.
Auch der Bürgermeister der ukrainischen Stadt Schytomyr westlich von Kiew berichtete auf Facebook, dass dort am Abend zwei Krankenhäuser getroffen worden seien, darunter eine Kinderklinik. Die Zahl der Opfer werde noch ermittelt. Seine Angaben konnten unabhängig nicht überprüft werden.
USA warnen vor Einsatz chemischer oder biologischer Waffen
Die US-Regierung warnte davor, dass Russland auch chemische oder biologische Waffen einsetzen könnte. Moskau verbreite selbst Falschinformationen über angebliche Waffenlabors in der Ukraine, um so möglicherweise den Boden für solche Angriffe zu bereiten, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, hatte zuvor behauptet, die Ukraine betreibe mit Unterstützung der USA Labors für chemische und biologische Waffen. Beweise dafür legte sie nicht vor. Am Mittwoch legte der stellvertretende russische UN-Botschafter Dmitri Tschumakow nach und forderte westliche Medien auf, über die geheimen Labors zu berichten.
Solche Vorwürfe seien "absurd", sagte Psaki. Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, nannte sie einen "Haufen Quatsch". UN-Sprecher Stéphane Dujarric sagte auf Nachfrage eines russischen Journalisten, er habe keine Informationen, die die russischen Vorwürfen belegen würden.
"Jetzt, da Russland diese falschen Behauptungen aufgestellt hat und China sich scheinbar hinter diese Propaganda gestellt hat, sollten wir alle die Augen offen halten, ob Russland möglicherweise chemische oder biologische Waffen in der Ukraine einsetzt», sagte Psaki.
US-Militärkreise: Russland kommt kaum voran
Russland könnte einen Vorwand für eine weitere Eskalation des Krieges schaffen wollen. Denn in den ersten zwei Wochen seit Beginn der Invasion sind die russischen Truppen weniger rasch vorangekommen als erwartet. Zwar würden mehrere Städte heftig beschossen, aber in den vergangenen 24 Stunden habe es wenig Veränderungen an den Positionen der russischen Truppen gegeben, verlautete am Mittwoch (Ortszeit) aus US-Militärkreisen. Einzig in Charkiw und in Mykolajiw seien russische Soldaten vorgerückt.
Hunderte fliehen aus Vororten von Kiew
Hunderte Ukrainer haben derweil ihre von russischen Truppen besetzten Heimatorte außerhalb von Kiew verlassen. Das ukrainische Innenministerium teilte mit, bei den Evakuierungsaktionen am Mittwoch seien 700 Einwohner der Orte Worsel und Irpin in Sicherheit gebracht worden. Aus drei anderen Vororten der Hauptstadt sei die Flucht nicht möglich gewesen. Reporter der Nachrichtenagentur AP sahen, wie sich lange Kolonnen von Autos, einige von ihnen mit weißen Flaggen, und Busse die Straßen entlang schoben. Einige der Flüchtenden sagten, sie hätten seit Tagen nicht gegessen.
Auch der Chef der Regionalverwaltung im Großraum Kiew, Oleksij Kuleba, schilderte nach neuen Artillerieangriffen auf Kiewer Vororte die verzweifelte Lage der Menschen dort. "Die russischen Truppen machen unser Leben systematisch zur Hölle", sagte er am Mittwoch im ukrainischen Fernsehen. "Die Menschen müssen Tag und Nacht unter der Erde sitzen, ohne Essen, Wasser oder Strom."
Behördenvertreter melden Beschuss mehrerer Städte
Lokale Behördenvertreter meldeten in der Nacht aus mehreren weiteren Städten Beschuss. Russische Flugzeuge hätten die Umgebung der nordostukrainischen Großstadt Sumy bombardiert, schrieb der Chef der Gebietsverwaltung von Sumy, Dmytro Schywyzkyj, auf Telegram. In der Stadt Ochtyrka südlich von Sumy seien erneut Wohngebiete beschossen worden. Es gebe zudem Informationen, dass dort auch eine Gasleitung getroffen worden sei.
Der Bürgermeister der südukrainischen Stadt Mykolajiw berichtete ebenso von Beschuss durch Mehrfachraketenwerfer, aus nördlicher Richtung kommend. "Entweder sie testen die Robustheit unserer Kontrollpunkte, oder sie bereiten sich auf eine Offensive vor", sagte Bürgermeister Olexandr Senkewitsch in einem Live-Video auf Facebook. Er rief die Menschen dazu auf, im Keller zu übernachten. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Behörden: Drei Fluchtkorridore aus Region Sumy geplant
Für den heutigen Donnerstag sind derweil einem ukrainischen Behördenvertreter zufolge drei Fluchtkorridore zur Evakuierung von Menschen aus der Region Sumy geplant. Diese führten aus den Städten Trostjanez, Krasnopillja und Sumy jeweils in Richtung der zentralukrainischen Stadt Poltawa, teilte der Chef der Gebietsverwaltung, Schywyzkyj, in der Nacht im Nachrichtenkanal Telegram mit. Der Beginn der Waffenruhe für die betreffenden Routen sei für 8.00 Uhr MEZ geplant.
Schywyzkij zufolge habe man noch andere Orte der Region für Fluchtkorridore eingereicht, diese allerdings noch nicht bestätigt bekommen. Fluchtkorridore sind Routen, über die sich Zivilisten unbehelligt in Sicherheit bringen können. Die Großstadt Sumy ist laut Angaben des britischen Verteidigungsministeriums eingeschlossen.
Nach Angaben von Schywyzkyj sind am Dienstag und Mittwoch fast 50.000 Menschen aus Sumy hinausgekommen. Am Mittwoch alleine hätten rund 10.000 Privatautos und 85 Busse die Stadt verlassen, insgesamt rund 44.000 Menschen.