Nach Terroranschlag bei Moskau Folter, die jeder sehen soll
Die Umstände, unter denen die mutmaßlichen Attentäter des Anschlags bei Moskau festgesetzt wurden, werfen nach wie vor Fragen auf. Offenkundig aber ist, dass sie schwer misshandelt wurden. Das sollte offenbar jeder sehen.
Russlands Sicherheitsorgane standen nie in dem Ruf, zimperlich mit Verdächtigen umzugehen. Doch die Bilder von den vier Männern, die an den Terroranschlägen auf die Konzerthalle Crocus bei Moskau beteiligt gewesen sein sollen, waren selbst für russische Verhältnisse ungewöhnlich.
Vor dem Moskauer Bezirksgericht Basmanny wurden am Sonntagabend vier Männer vorgeführt, die ganz offensichtlich schwer misshandelt worden waren. Ein Mann, dessen Name mit Saidakrami Murodali Ratschabalisoda angegeben wurde, hatte nicht nur Blutergüsse am Kopf und ein zugeschwollenes Auge.
Saidakrami Murodali Ratschabalisoda sitzt in der Kabine im Bezirksgericht Basmanny in Moskau mit einer Verletzung am Ohr.
Über einem Ohr trug er einen Verband - offenbar war ihm nach seiner Festsetzung ein Teil des Ohres abgeschnitten worden. Nach Medienberichten soll über ein der Wagner-Gruppe nahestehenden Telegram-Kanal ein Video verbreitet worden sein, das den brutalen Vorgang zeigt.
Folter mit Stromstößen?
Ein weiterer Festgenommener, Schamsidin Fariduni, erschien ebenfalls vor Gericht mit deutlichen Schwellungen im Gesicht. Bilder auf Telegram sollen zudem zeigen, wie er nach seiner Ergreifung mit Stromstößen im Genitalbereich gefoltert wurde.
Auch Dalerdschon Mirsojew hat Blutergüsse im Gesicht.
Um den Hals des Festgenommen Dalerdschon Mirsojew hing vor Gericht eine Plastiktüte - Beobachter zogen daraus den Schluss, dass ihm damit die Atemluft entzogen worden sei. Auch er hatte ein blaues Auge.
Der vierte Vorgeführte, dessen Name mit Muhammadsobir Fajsow angegeben wurde, wurde in Krankenhauskleidung auf einem Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben. Beobachter schrieben, er habe während der Anhörung das Bewusstsein verloren. Offenbar fehle ihm sein linkes Auge.
Muhammadsobir Fajsow sitzt in Krankenhauskleidung im Gericht.
Die russischen Sicherheitsorgane hatten sich keine Mühe gegeben, vor Gericht den Zustand der Verdächtigen zu verheimlichen oder zu vertuschen - vielmehr entstand der Eindruck, dass die Öffentlichkeit im Land und international unbedingt sehen sollte, wie man mit den Männern umgesprungen war.
Vorwürfe mit Vorgeschichte
Dass Russlands Sicherheitsorgane Verdächtige misshandeln, ist kein neuer Vorwurf: Die Nicht-Regierungsorganisation Human Rights Watch (HRW) erhebt ihn schon lange gegen die Behörden des Landes. Die russische Nicht-Regierungsorganisation Crew Against Torture führt auf ihrer Webseite mehr als 3.700 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und mehr als 370 Fälle von Folter auf.
Der "klar demonstrative Charakter der Folter" stelle aber eine neue Qualität dar, zitiert der Londoner "Guardian" Tanya Lokshina von HRW. Offenbar seien die Bilder von den Verdächtigen nicht unbeabsichtigt verbreitet worden, sondern als gezielte Warnung an alle, die Anschläge in Russland planten:
Solche Videos zeigen das Ausmaß, in dem Gewalt in den vergangenen zwei Kriegsjahren in Russland normalisiert worden ist. Vorher gab es weit verbreitete Vorwürfe der systematischen Folter durch russische Sicherheitsbehörden. Aber bislang wäre es undenkbar gewesen, dass sie Videobeweise stolz veröffentlicht hätten.
Der russische Politikwissenschaftler und Journalist Kirill Rogow geht noch weiter und erkennt in den Vorgängen eine spezielle Technik des russischen Präsidenten Wladimir Putin, mit der dieser auf Krisen und bloßgelegte Schwächen reagiere. Das Portal "Dekoder" zitiert Rogow so:
Die Technik besteht in Folgendem: Wenn eine Krise deine Schwäche aufdeckt, muss die Wut des Vergeltungsschlags auf den losgelassen werden, der sich in Reichweite befindet. Das ist in der Regel nicht der, der für deine Schwäche verantwortlich ist. Doch das spielt keine Rolle. Denn vor allem die Heftigkeit und Wirksamkeit des Schlages sollen den Eindruck deiner Schwäche aufheben, der durch die zuvor erlittene Niederlage entstanden ist. Das ist der Sinn dieser Technik.
Orden und Todesstrafe?
Einige der Beamten, die an der Ergreifung der Verdächtigen beteiligt gewesen waren, sollen nach Medienberichten bereits Auszeichnungen erhalten haben. Die russische Regierung gab sich zugleich unbeeindruckt von den Foltervorwürfen und lehnte einen Kommentar ab.
Dafür äußerte sich Ex-Präsident Dmitri Medwedjew und forderte, alle, die mit dem Anschlag zu tun oder auch nur mit den Tätern sympathisieren würden, müssten getötet werden.
Nun füllt Medwedjew spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine die Rolle des enthemmten Scharfmachers aus. Und doch steht er insofern nicht allein, als in Russland nach dem Terroranschlag eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe ausgebrochen ist. Diese war 1999 vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin außer Kraft gesetzt worden.
Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin vertrat nun die Ansicht, die Todesstrafe könne schnell wieder eingeführt werden, weil sie formell nie abgeschafft worden sei. Dafür bedürfe es lediglich eines Beschlusses des Verfassungsgerichts. Was bei solchen Entscheidungen Geständnisse, die unter Folter erzwungen wurden, wert sind, scheint keine Rolle zu spielen.