Der russische Präsident Wladimir Putin (Aufnahme vom 27. Juni 2023)
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Nach Prigoschin-Aufstand Wie geschwächt ist Putin?

Stand: 27.06.2023 17:34 Uhr

Ist der Wagner-Aufstand ein Zeichen dafür, dass Putins Macht bröckelt? Wie groß ist die Gefahr für Prigoschin? Welche Rolle spielt Belarus? Kann die Ukraine hoffen? Wie Experten die Situation bewerten.

Wie wird Putins Rolle bewertet?

Russland-Experte Wilfried Jilge sieht eine deutliche Schwächung des russischen Präsidenten. Am Wochenende sei der Eindruck von "Entscheidungsschwäche und Kontrollverlust entstanden", sagte er im tagesschau24-Interview. "Putin hat in einem Moment der Gefahr nicht reagiert, war nicht handlungsfähig am Samstag und hat damit sozusagen den Eindruck vermittelt, Russland und sein System ist schwach", sagte Jilge, der unter anderem bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik forscht. Selbst die Sicherheitsorgane hätten die Situation offenbar nicht mehr beherrscht.

Bekommt Putins Machtapparat Risse ?

Ina Ruck, ARD Moskau, tagesthemen, 27.06.2023 22:15 Uhr

Auch die Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse spricht von einem "Kontrollverlust". Es sei eine ernste Lage gewesen. Putin habe erkannt, dass sich Akteure, die er selbst geschaffen hat, auch gegen ihn wenden können, sagte sie bei tagesschau24. Aus ihrer Sicht geht ein "Riss durch das System". "Das heißt nicht, dass Putin jetzt stürzen wird, aber diese Frage nach den Loyalitäten im System, die war so offen wie noch nie zuvor gestellt." Momentan werde Putins Rolle noch nicht intern von mehr Eliten angezweifelt, er sitzt also "noch relativ fest im Sattel". "Aber diese Erinnerung an den Moment, den kann man in der Tat nicht mehr beseitigen. Und das kann über einen längeren Zeitraum auch eine andere Dynamik entwickeln."

Kirill Rogow, Direktor des Beratungsunternehmens Re:Russia, sieht in dem abgebrochenen Aufstand "nicht das Ende der Geschichte, sondern den Anfang". Militärische Rebellionen, auch erfolglose, seien in der Geschichte oft ein Vorbote, "der Beginn eines Prozesses".

Wie sieht die Bevölkerung Putin?

Osteuropa-Expertin Sasse beobachtet, dass Russland versucht, nun zur Normalität überzugehen. "Es gibt auch in einer autoritär geprägten Gesellschaft den Wunsch nach Normalität und auch den Wunsch danach, sich damit gar nicht genauer befassen zu müssen", sagte Sasse.

Russland-Expertin Sarah Pagung hält es für möglich, dass der Rückhalt durch die Ereignisse des Wochenendes schwinden könnte. "Ich glaube, dass mittel- bis langfristig genau dieser Nimbus von Putin als allmächtig, als kontrollierend in Russland, wenn nicht gebrochen, dann zumindest deutlich angekratzt ist", sagte sie im tagesschau24-Interview. "Und dass das etwas sein wird, was dem Regime auf mittlere und lange Sicht deutliche Probleme machen wird."

Gwendolyn Sasse, Osteuropa-Expertin, zu möglichen Rissen in Putins Machtapparat

tagesthemen, 27.06.2023 22:15 Uhr

Was wollte Prigoschin erreichen und wie geht es weiter?

Osteuropa-Expertin Sasse glaubt, dass es Jewgeni Prigoschin um den Erhalt seiner Truppe ging. "Er wollte die Wagner-Truppen nicht unter die russische Armee einordnen und da ist sicher viel dran." Ähnlich bewertet der Politikwissenschaftler Herfried Münkler die Situation. Mit einer Eingliederung in die russische Armee "wäre Prigoschin als eigenständiger Akteur ausgeschaltet, sowohl militärisch als auch politisch".

Inzwischen ist der russische Söldnerchef in Belarus eingetroffen. Laut Münkler muss er um sein Leben bangen. "Ich gehe davon aus, dass die Russen Prigoschin über kurz oder lang liquidieren werden", sagte er dem "Spiegel". Ähnlich äußerte sich auch Russland-Experte Jilge.

Der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko, der ihm nun offenbar Unterschlupf gewähre, werde dem russischen Geheimdienst dabei kaum im Weg stehen, glaubt Münkler. Zur Rolle Prigoschins sagte er: "Je fragiler ein Staat ist, desto größer sind die Erfolgschancen von Warlords."

Welche Rolle spielt Belarus?

Klar ist, dass Lukaschenko als Vermittler vorgezeigt wird. Doch Experten glauben nicht an eine aktive Rolle des belarusischen Machthabers. "Ich wäre vorsichtig bei der Darstellung, dass Lukaschenko eine unabhängige Vermittlerrolle gespielt hat", sagte Osteuropa-Expertin Sasse. "Das ist meines Erachtens nach genau das Bild, das der Kreml vermitteln möchte zum jetzigen Zeitpunkt. Und es ist auch das Bild, was Lukaschenko selbst von sich vermitteln möchte." Ihrer Meinung nach ist Lukaschenko zu abhängig von Moskau. "Ich würde eher davon ausgehen, dass das alles vom Kreml ausging und Lukaschenko wieder einmal umsetzt, was Putin ihm sagt."

Lukaschenko äußerte sich erstmals zu den Ereignissen am Wochenende und bezeichnete den Aufstand als Gefahr für Russland. Alle Beteiligten hätten die Gefahr der Eskalation des Konflikts anfangs falsch eingeschätzt und geglaubt, dass sich die Situation so lösen lasse. Zwei Menschen seien "aufeinandergeprallt", sagte er bezogen auf Putin und Prigoschin. "In diesem Fall gibt es keine Helden", fügte Lukaschenko hinzu und kritisierte damit auch Putin.

Was wird aus der Wagner-Truppe?

Eintritt in die russische Armee, Ausreise nach Belarus oder zurück zur Familie. Vor diese Wahl hat Putin die Wagner-Söldner gestellt. Wer welche Option wählt, wird kaum zu überprüfen sein, glaubt die Osteuropa-Expertin Sasse. Da es neben den Wagner-Söldnern noch weitere Privatarmeen in Russland gebe, könne Putin in Zukunft erneut unter Druck geraten. "Das Szenario kann sich wiederholen", sagte Sasse im tagesschau24-Interview.

Inzwischen hat Kremlchef Putin eingeräumt, dass die Wagner-Armee komplett vom Staat bezahlt wurde. "Wir haben diese Gruppe komplett finanziert", sagte Putin der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Er hatte die Wagner-Leute am Samstag angesichts ihres inzwischen beendeten Aufstands als "Verräter" bezeichnet. Nach Darstellung Putins erhielt die Gruppe von Mai 2022 bis Mai 2023 insgesamt rund 930 Millionen Euro aus dem Staatshaushalt. Offiziell nennt sich die Wagner-Armee ein privates Militärunternehmen.

Was bedeutet das für den Krieg gegen die Ukraine?

Welche Folgen der Aufstand der Wagner-Söldner für die Ukraine hat, lässt sich derzeit nur vermuten. Russland-Experte Jilge rechnet aber damit, dass Putin auf die jüngsten Ereignisse mit mehr Härte im Krieg reagieren wird. Die Ukraine könne aktuell keine Angebote aus Moskau erwarten. Das würde Putins angeschlagene Machtposition unmittelbar gefährden.

Den Wegfall der Wagner-Kämpfer im Krieg gegen die Ukraine nennt Jilge "einen Verlust für die russische Armee" - auch vor dem Hintergrund der Misserfolge an der Front. Die Wagner-Truppe sei eine der wenigen schlagkräftigen Einheiten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 27. Juni 2023 um 17:00 Uhr.