Friedensnobelpreis 2022 "Verantwortung übernehmen, Regeln brechen"
Oleksandra Matwijtschuk ist Vorsitzende des Center for Civil Liberties. Der Kampf für Menschenrechte bewegt sie seit der Kindheit. Inmitten des Krieges sieht sie "fantastische Geschichten von Solidarität und Menschlichkeit".
Februar 2022, kurz vor dem russischen Großangriff: Oleksandra Matwijtschuk sitzt in ihrem Büro im "Zentrum für bürgerliche Freiheiten" in Kiew. Die regierungsunabhängige Organisation setzt sich seit 2007 für Menschenrechte ein und begleitet die demokratische Entwicklung der Ukraine, dringt unter anderem auf eine Reform des Rechtssystems.
Ruhig spricht Matwijtschuk mit dem verzweifelten Anrufer, dessen Familienmitglied im russisch besetzten Gebiet im Osten der Ukraine willkürlich festgehalten wird, wie er sagt: Ohne Anklage, ohne Anwalt, ohne Kontakt zur Familie. Für die Juristin nur einer von zig Fällen eklatanter Menschenrechtsverletzungen, die sie und ihr Team seit 2014 in den besetzten Gebieten um Donezk und Luhansk im Donbass und auf der durch Russland völkerrechtswidrig annektierten Krim systematisch dokumentieren.
Ein paar Monate später im selben Büro tippt Matwijtschuk in ihren Laptop. Sie hat nach der russischen Invasion in die Ukraine Kiew nicht verlassen - die Stadt, in der sie geboren wurde, studierte und mit ihrem Mann lebt. Ihre Organisation dokumentierte inzwischen Verbrechen in Butscha oder Irpin. "Es gibt ein Leben vor und nach dem 24. Februar", sagt die 38-Jährige. Sie wirkt müde und hat tiefe Schatten unter den blauen Augen.
Oleksandra Matwijtschuk in Kiew
Freude über Auszeichnung
Sie freue sich, dass ihr Zentrum den Friedensnobelpreis gemeinsam mit Memorial und Ales Bjaljazki bekommen habe, schreibt Matwijtschuk auf Facebook nach der Verkündung der Preisträger in diesem Jahr. Sie sei gerade im Zug von Polen nach Kiew unterwegs und entschuldige sich bei allen, die sie nicht erreichen könnten.
Sie erhebt in ihrem Post politische Forderungen: Die Vereinten Nationen (UN) müssten sich reformieren, um Sicherheitsgarantien für alle Länder und ihre Bürger zu schaffen. Russland solle wegen systematischer Verstöße gegen die UN-Charta aus dem UN-Sicherheitsrat ausgeschlossen werden. Zudem müssten die Vereinten Nationen die "Verantwortungslücke" schließen und Hunderttausenden Opfern von Kriegsverbrechen eine Chance auf Gerechtigkeit bieten. Ohne dies sei nachhaltiger Frieden in der Region nicht möglich. Außerdem fordert Matwijtschuk ein internationales Tribunal, vor dem unter anderem der russische Präsident Wladimir Putin und der belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko angeklagt werden sollen.
Der Friedensnobelpreis ist schon die zweite internationale Anerkennung für die Arbeit ihrer Organisation: Er folgt auf die Auszeichnung mit dem spendenfinanzierten Right Livelihood Award. Matwijtschuk will beide persönlich entgegennehmen, vor allem um vor Ort auf die Lage in der Ukraine weiter aufmerksam machen zu können.
"Dinge, auf die man sich nicht vorbereiten kann"
Rund ein Fünftel der Ukraine ist derzeit russisch besetzt und die Berichte über die herrschende Gesetzlosigkeit in diesen Gebieten sind geradezu monströs: Folter, Vergewaltigung, aggressivste Propaganda, Einschüchterung, besetzte Atomkraftwerke und bewaffneter Zwang - so wie während der Scheinabstimmungen in von Moskau initiierten "Referenden".
In den ersten Monaten habe sie sich selbst verboten, zu reflektieren, sagt Matwijtschuk: "Wir haben so viele Verbrechen gesehen. Wenn ich mich gefragt hätte, was ich fühle, dann hätte ich daran zerbrechen können. Aber es fällt mir immer schwerer, die Gefühle unter Kontrolle zu halten - und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll."
Seit 20 Jahren arbeite sie als professionelle Menschenrechtsanwältin zum Schutz der Menschenrechte in der Ukraine und habe acht Jahre lang Kriegsverbrechen dokumentiert. "Aber auf das hier war ich nicht vorbereitet. Es gibt Dinge im Leben, auf die man sich nicht vorbereiten kann und Krieg gehört dazu."
"Verantwortung übernehmen, Regeln brechen"
Auf dem zentralen Majdan Nesaleschnosti in Kiew scheppert jeden Morgen die ukrainische Nationalhymne aus ein paar Lautsprechern. Der Platz war in der Vergangenheit immer wieder zentraler Ort der ukrainischen Demokratiebewegung, an der sich Matwijtschuk aktiv beteiligte und für die sie mit der Organisation "Euromaidan SOS" eine Rechtsberatung auf die Beine stellte.
Sie unterstütze internationales Recht und internationale Organisationen, betont Matwijtschuk. Doch wie schon in Syrien oder Afghanistan hätten diese die Menschen nicht schützen können. Das sei strukturell bedingt, findet Matwijtschuk und nennt ein Beispiel: "Menschen brauchen Wasser und die Internationalen Organisationen haben die Möglichkeit, es zu liefern. Sie folgen aber ihren Regeln und es dauert Wochen. Aber die Menschen brauchen jetzt Wasser. Um ein Ziel zu erreichen, muss man aber Verantwortung übernehmen und Regeln brechen."
Die Architektur internationaler Organisationen müsse sich ändern: "Denn sie arbeiten um ihrer selbst willen und müssen reformiert werden." Schon als Kind habe sie der Einsatz ukrainischer Dissidenten zu Sowjetzeiten beeindruckt und sei ihr bis heute eine wichtige Motivation, sagt Matwijtschuk:
Ich möchte aber auch sagen, was mich inspiriert: Wenn du gegen die riesige russische Staatsmaschinerie kämpfen musst, mag dir dein bescheidener Beitrag sinnlos erscheinen. Man muss dann wissen, worauf man sich verlassen kann - und das sind die Menschen hier. Wir kennen eine Menge fantastischer Geschichten von Solidarität und Menschlichkeit und das finde ich sehr inspirierend.